Mit jedem deiner Fehler
Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Janina, 19 Jahre
„Du bist wunderschön...“ Er zog mich in seine Arme. Küsste mich aufs Haar. Ein schwaches Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Doch automatisch zog ich mit meinen Fingern meinen Pulli ein Stückchen weiter herunter. Er kannte die Narben. Er hatte sie gesehen. Schon vor Wochen. Er hatte aber nicht gefragt. Zum Glück hatte er nicht gefragt. Ich wusste nicht, wie ich dann reagiert hätte. Vermutlich hätte ich ihn aus meinem Leben verbannt. Wie jeden, der nachfragte. Doch ich hätte es nicht verkraftet, wenn er gegangen wäre. Ich hätte wieder angefangen. Jonas hatte nicht gefragt. Er hatte gespürt, dass ich nicht darüber reden wollte. Er hatte mich einfach in seinen Arm genommen, mir einen Kuss auf die Stirn gedrückt und mir zugeflüstert ich sei wunderschön. Vorwurfslos. Liebevoll. Ehrlich. Spürbar ehrlich. Das war das, was ich gebraucht hatte.
„Ich bin nicht schön.“
„Stimmt. Du bist wunderschön.“ Sanft strich er mit seinen Fingern durch mein Haar. Er liebte mich. Mich. Mit allen Fehlern und Macken. Ich hatte viele Fehler. Ich hatte viel Mist gebaut. Und die Schönheit, die ich vielleicht mal besessen hatte, war schon lange fort. Ich hatte angefangen nach der Klinge zu greifen, wenn es mir schlecht ging. Es ging mir oft schlecht. Nein, ich war nicht schön. Ich war kaputt.
„Mila ist schön.“ Meine Schwester war schön. Wunderschön. Ich liebte ihr Lachen. Liebte ihre Kraft. Ich wusste nicht, wo sie mit ihren sieben Jahren so viel Energie hernehmen konnte. Sie liebte das Leben. Sie liebte die Welt. Sie liebte sich. Früher sprang sie immer fröhlich tanzend in ihrem Prinzessinnenkostüm durch die Wohnung und sang. Und dann, als es nicht mehr ging, als sie nicht mehr tanzen konnte, hatte sie sich in dem Kostüm gemalt. Und mich daneben. In einem pinken Kleid. „Wir sind beide Prinzessinnen.“, hatte sie dann gesagt. Mila war sechs, als das Auto sie erfasst und in den Rollstuhl verbannt hatte. Doch sie lachte einfach weiter. „Prinzessinnen dürfen auch im Rollstuhl sitzen.“
„Das muss wohl in der Familie liegen.“ Ich hatte nie verstanden, wie Mila so stark sein konnte. Sie war noch so klein und so zart. Meine Eltern machten sich gegenseitig Vorwürfe. Mein Vater schrie meine Mutter an, sie hätte sie besser im Auge behalten müssen. Meine Mutter schrie zurück, er hätte das Gartentor abschließen müssen. Ich lag oben bei meiner Schwester im Bett und las ihr Märchen vor, damit sie es nicht hörte. Geschichten über Prinzessinnen. Doch wenn sie eingeschlafen war, flossen meine Tränen und ich stahl mich aus ihrem Zimmer um in Einsamkeit meinen Schmerz zu lindern. Nach der Klinge zu greifen. Ich war innerlich kaputt. Wenn ich etwas von meiner äußerlichen Schönheit dafür eintauschen konnte, dass es mir besser ging, wenn auch nur für einen Moment, dann war das okay.
Jonas nahm meine Hände, mit denen ich immer noch den Pullover festhielt, und löste den Griff. Nicht mit Gewalt, nur ganz sanft. „Ist schon gut“, flüsterte er mir ins Ohr und lächelte etwas, „Auch das bist du.“ Ich ließ den Stoff los und gewahr ihm mit seinen Fingern über meine Handegelenke zu streicheln.
Meine Eltern hatten mich ignoriert. Sie waren zu sehr damit beschäftigt sich um Mila zu kümmern und wenn sie das gerade nicht taten, hatten sie keine Augen mehr für irgendetwas anderes, sondern schrien sich nur an. Sie hatten nur noch eine Tochter mit Bedürfnissen. Ich brauchte keine Zuwendung. Ich blieb stumm. Blieb stumm und verlor jeden Tag an Kraft. Wünschte, dass das Auto mich erfasst hätte. Ich hasste mich. Alles an mir. Wenn ich in den Spiegel sah, sah ich nicht mehr das fröhliche Mädchen, das ich einst war. Ich sah eine Schuldige. Ich hatte Mila in den Rollstuhl gebracht. Ich hatte sie zum Nachbarn geschickt um eine Schüssel zu holen. Ich war zu faul gewesen selbst zu gehen. Ich war schuld. Ich. Ich. Ich. Und jeder Schnitt ins Fleisch nahm mir für einen Moment den Schmerz. Die Schuld. Doch sie kam zurück. Immer wieder.
„Ich liebe dein Lachen. Ich liebe das kleine Strahlen in deinen Augen, wenn du siehst, wie viel Spaß Mila hat. Ich liebe es zu sehen, wie das Strahlen immer weiter wächst. Ich liebe deinen Charakter. Deine Fürsorge. Deine Offenheit. Deine Herzlichkeit. Deine Liebe. Ich liebe deine innere Schönheit noch mehr als deine äußere.“ Er drehte mein Gesicht zu sich und küsste mich sanft.
„Das sind nur noch Narben. Nichts weiter als Narben. Doch du beginnst zu heilen, dein Herz regeneriert sich, merkst du das nicht?“
Vielleicht hatte er Recht. Ich hatte wieder angefangen zu lachen, das stimmte. Durch meine Maske hindurch stahl sich immer wieder ein echtes Lächeln. Schuld daran war Mila. Mit ihrer Schönheit. Mit ihrer Kraft. Wie sie in ihrem Prinzessinnenkostüm im Rollstuhl gesessen und mich angelacht hatte. Wie sie mich angestrahlt hatte und mir ins Ohr ein Geheimnis flüsterte. „Weißt du was? Ich bin was ganz Besonderes. Die meisten Prinzessinnen sitzen nämlich nicht im Rollstuhl.“ Sie war etwas Besonderes. Sie war lebensfroher als jeder andere, den ich kannte.
„Du bist wunderschön.“ Er küsste mich aufs Haar. Ich schloss die Augen. Von wunderschön war ich noch weit entfernt. Aber vielleicht war ich wieder auf dem Weg dahin, es zu werden. Während die Schnitte auf meinen Armen verheilten, würde auch mein Herz heilen.
Alles über den Schreibwettbewerb
Autorin / Autor: Janina, 19 Jahre