Âme sprach nicht. Niemand konnte sie hören, denn sie hatte keinen Mund, der die Worte formen konnte, keine Stimme, die sie nach außen hätte tragen können. Und so waren es nur Gedanken, die durch Âmes nicht fassbaren Geist flossen, für niemanden anderen als für sie hörbar.
Âme war ein körperloser Geist, noch nicht einmal aus Nebel bestehend. Sie war – nichts. Und doch etwas. Denn es gab die Gedanken, die einfach da waren, die Âme zu Âme machten und die Erinnerungen, die Âme daran erinnerten, dass sie einmal der Mensch Elenore gewesen war. In ihrem Nichts gab es nur diese Erinnerungen. Denn Âme sah auch nichts, denn sie hatte auch keine Augen. Sie war nur noch sie, nur für sich alleine.
Es war einmal anders gewesen. Bilder huschten durch ihr Bewusstsein von ihrem Körper als Elenore. Groß, mit Problemzonen an Po und Oberschenkel, ein etwas zu breites Gesicht mit einer Stupsnase und unscheinbaren grauen Augen und straßenköterbraunem Haar.
An ihrem letzten Tag hatte sie ein leichtes Sommerkleid getragen. Sie war mit ihren Freunden auf dem Jahrmarkt gewesen. Die Namen und die Gesichter ihrer Freunde waren nur noch verschwommen, verwaschen von der Unerbittlichkeit der Zeit. An das Innere des Zeltes der Wahrsagerin, die sie aus Spaß besucht hatten, konnte sie sich jedoch noch genau erinnern. Es hatte ätherisch gerochen und hatte ihr eine Gänsehaut verursacht. An jedem Zeltfuß hatte ein rundgeschliffener blauer Stein gelegen und in der Mitte stand eine große Kerze, die unnatürlich hell leuchtete. Die raue Stimme der Wahrsagerin hatte gefragt, ob sie Kontakt mit Verstorbenen aufnehmen wöllten. Elenore wollte nicht, hatte sich dann jedoch von ihren Freunden überreden lassen. Also hatte sie widerstrebend den Anweisungen gefolgt tief zu atmen und sich zu entspannen. Erst lief Elenore ein eisiger Schauer ihr Rückgrat herab - und dann - dann war sie nicht mehr Elenore. Dann war sie Âme, eine verwirrte, vollkommen panische Seele mitten im Nichts. Langsam und träge wie ein Fluss durchflossen die Erinnerungen Âmes Bewusstsein, immer wieder und immer weniger, bis sie in den Tiefen ihres Unterbewusstseins verschwunden waren und Âme nur noch einen Gedanken hatte. Die Tiefe ihre ganze Seele ausfüllende Sehnsucht nach einem Körper.
Elenore Soul Bergmann stand im Regen, das Gesicht den Wolken entgegengestreckt. Mit einem wohligen Prickeln spürte sie jeden einzelnen Regentropfen, der über ihr Gesicht lief ganz bewusst. Wenn sie die Augen schloss und tief in sich hineinhorchte, waren da noch schattenhafte Erinnerungen an ihr „Leben“ davor. An ihr Leben nur als Soul. Die beklemmende Einsamkeit und die schmerzhafte Sehnsucht nach einem Körper waren nur ein schwacher Abbild von damals und doch noch so intensiv, dass sie eine Gänsehaut bekam. Elenore genoss ihr Leben seit dem Tag vor drei Jahren Tag für Tag, Minute für Minute. Es war ganz plötzlich gekommen. Plötzlich war da etwas um sie herum. Eindrücke, die sie nicht zuordnen konnte. Sie hatte den neuen Mund geöffnet. Und geschrien. Für Soul hatte es bis dahin nur ihre Gedankenstimme gegeben. Zu wissen, dass man innerlich schrie, aber nun so seltsame Töne zu hören, war für sie ein Schock. Stocksteif stand sie da, weil sie nicht gewusst hatte, wie sie ihren Körper bewegte - dass sie sich überhaupt bewegen KONNTE. Sie fragte sich manchmal, wie sie auf die Leute dort gewirkt haben musste. So viele Formen, Farben… Soul hatte nur Angst gehabt. Ganz langsam hatte sie gelernt zu fühlen, sehen, hören, zu schmecken und sich zu bewegen. Vor fast zwei Monate war Soul aus der Psychiatrie entlassen wurde. Nicht mehr als Soul, sondern als Elenore. Für Elenores Eltern - für ihre Eltern war sie wieder die Alte. Und Soul würde sie auch nicht korrigieren. Niemand sollte wissen, dass es nicht mehr Elenore war, die in diesem Körper wohnte. Niemand sollte wissen, dass die Seele Soul bei einem seltsamen Ritual in einem Wahrsagerzelt Besitz von Elenores Körper ergriffen hatte und die eigentliche Elenore vertrieben hatte.
Es war ganz zufällig passiert. Für sie war es ein Wunder gewesen. Als sie vor einigen Tagen recherchiert hatte, hatte sie gemerkt, dass es purer Zufall gewesen war. Die Wahrsagerin hatte einen Energiekreis gebildet. Ein uraltes Ritual der amerikanischen Ureinwohner, dessen wahre Bedeutung schon lange niemand mehr gewusst hatte. Es gab nur noch Mythen, die niemand wirklich glaubte. Für die Wahrsagerin war es nur Schmuck gewesen, um glaubwürdiger rüberzukommen. Der Kreis bündelte Energie. Energie, die dazu genutzt werden konnte, die Körper zu tauschen. Aber nur wenn man hellsichtig war, die Begabung, seine Seele vom Körper lösen zu können, hatte. Elenore hatte sie besessen. Und Soul sowieso. Hätte es zwei Körper gegeben, hätten sie ihn nur getauscht. Aber da es nur ein Körper gab, konnte es nur eine Seele dafür geben. Und das war Soul. Ein schrecklicher Zufall für Elenores Seele, ein wunderbarer für Soul. Sie war einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen. Und deshalb konnte sie nun im Regen stehen und das kühle Wasser auf IHREM Körper fühlen.
Elenore Soul hatte in den alten Tagebüchern gelesen, dass die alte Elenore sich nicht schön gefunden hatte. Zu dick, zu groß, zu unscheinbar.
Die neue Elenore liebte den Körper. So groß, so weiblich, so wunderschönes langes Haar. So fühlend, so sehend, so riechend, so schmeckend.
Der alten Elenore war der Körper nicht genug, sie hatte ihn gar nicht zu schätzen gewusst. Da ist es nur gerecht, wenn ich ihn nun habe, ich, die mir nichts Besseres als diesen Körper vorstellen kann, dachte Elenore und lächelte. Mit ihren Lippen, in ihrem Gesicht, ihres Körpers.