Das erste, was ich spürte als ich aufwachte, der Schmerz der von meinen Knochen kam. Trotz Kissen schmerzte es, nachts auf ihnen zu liegen. Aber immer noch besser, als wenn ich fett wäre, dachte ich mir und stand auf. Ich ging hinunter in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Mein Magen knurrte. Gestern hatte ich es endlich geschafft einen Tag lang nichts zu essen. Nach sechs Monaten hatte ich es endlich geschafft. Monatelanges Fasten, auf Mahlzeiten verzichten, kein Fett und kaum Kohlenhydrate essen und das ständige Kalorien zählen hatten sich ausgezahlt. „Nein, du darfst nichts essen. Willst du deinen Erfolg so bestrafen?“, sagte mir meine innere Stimme. Ich sah das Brot genau vor meiner Nase und mir schoss sofort die Kalorienzahl in den Kopf. „Denk nur an die vielen Kalorien... Schließ die Tür, sonst isst du und wirst fett“, redete die Stimme weiter. Sie übertönte mein Magenknurren und siegte schließlich. Ich schloss den Kühlschrank, legte ein paar Krümel auf meinen Teller, der schon auf dem Tisch stand, schmierte ein bisschen Nutella auf das Messer und machte mir einen Tee. Während ich ihn trank, entsperrte ich mein Handy und und lass mir den Spruch auf meinem Hintergrundbild durch:
„Nahrungsverweigerung ist ein Zeichen von wahrer Stärke und Willenskraft.“
Dieser Spruch gab mir immer Kraft, wenn ich kurz davor war, einen Fressanfall zu bekommen. Ich hatte ihn auf einem Pro-Ana Blog gelesen.
„Guten Morgen“, hörte ich die Stimme meiner Mutter sagen. Ich schreckte herum. Schnell sperrte ich mein Handy. „Morgen“, erwiderte ich. „Du hast schon gefrühstückt?“, fragte sie mich mit dem Blick auf meinen Teller. „Ja, habe ich“ antwortete ich, trank den letzten Schluck Tee, den ich noch in meiner Tasse hatte und verschwand ins Bad.
Ich zog mir mein Oberteil aus und betrachtet mich im Spiegel. Ein Spiegel war ehrlicher als jeder Mensch oder jedes Lebewesen es jemals sein könnte. Er zeigt mir, was wirklich ist. Und das was ich sah, brachte mich jedes mal wieder zur Verzweiflung. Ich fuhr mir über die Rippen, die schon hervorstanden, aber wenn ich meine Oberschenkel betrachtete, bekam ich wieder Tränen in die Augen. Warum konnte ich nicht endlich richtig schlank sein? Mir liefen Tränen über die Wangen. Ich kniete mich auf den Boden und betrachtete mich weiter im Spiegel. Ich ging weiter ran und legte meine Hand auf den Spiegel neben dem Spiegelbild meines Gesichtes. Wie ich mich hasste, wie ich alle Menschen hasste, die sagten, dass ich schlank sei, und wie ich den Spiegel hasste, weil er mir immer eiskalt die harte Wahrheit zeigte. Ich rappelte mich auf und stellt mich auf die Waage. Einen kleinen Triumph hatte ich doch, denn ich hatte wieder 500g abgenommen. Aber wenn ich in den Spiegel sah, verspürte ich nur Hass, Hass gegen alles, gegen jeden, doch vor allem gegen mich selbst. Warum musste ich nur so hässlich sein? Warum musste ich diesem Körper gefangen sein? „Du bist stark, lass dich nicht hängen. Bald bist du schön. Beweise, dass du dem Essen widerstehen kannst“, sagte meine innere Stimme. Sie hatte recht. Ana hatte recht. Meine beste Freundin, die mir half, den Tag zu überstehen, ohne fetter zu werden. Mit ihr war ich diesem Körper gefangen und ich war froh nicht alleine zu sein. Für einen kurzen Moment fasste ich Hoffnung, aus dieser ungerechten Welt herauszukommen, aber dann fiel mein Blick wieder zum Spiegel. Das was ich sah, widerte mich an. Ich taumelte zur Toilette und versuchte mich zu übergeben. Ich würgte und würgte und steckte mir mehrmals den Finger in den Hals, aber es kam nichts. Wie denn auch? Ich hatte in den letzten Tagen ja auch so gut wie nichts gegessen. Ich fing wieder an zu weinen. Ich spürte fast, wie der Spiegel zu mir sagte: „Sieh endlich ein, dass du fett bist. Das ist das, was ich dir immer gezeigt habe und du musst es akzeptieren.“ Ich war verzweifelt. Was sollte ich tun? Was konnte ich noch tun?
„Lina, du musst zur Schule“, hörte ich meine Mutter rufen. Was interessierte mich jetzt die Schule? Ich zog mich, damit sie nicht hochkam und mich so sah. Ich schminkte mich, um das hässliche Wesen zu verstecken, in dem ich gefangen war. Dann lief los zur Schule. Überall sah die ganzen schönen und dünnen Menschen und ich fing an, meinen Körper noch mehr zu hassen, als ich sowieso schon tat. Ich konnte hier nicht raus, nicht aus diesem hässliche Körper, nicht aus dieser ungerechten Welt. Es gab keinen Ausweg.
Ich kam zu einer stark befahrenen Kreuzung und fasste einen Entschluss. Und mit der Hoffnung, endlich erlöst zu werden, lief ich auf die Straße. Ein Auto schaffte es nicht mehr zu bremsen...