Essen oder Leben
Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Leonie, 17 Jahre
Die Decke ist weggestrampelt, meine Füße nackt. Sie nehmen die Breite des Bettes ein, weil sie so dick sind. Wie mein Bauch vor mir. Riesig. Ob sie sich wohl fühlen, mit der Masse, die sie mit sich herum schleppen müssen? Können sie glücklich sein? Mein Verstand wehrt sich dagegen und flüstert leise nein. Nein, ein Hauchen. Das kleine Nein tut mir Leid, auch meine Vernunft, denn sie haben keine Macht über mich. Niemand hat die Oberhand. Wie könnte es anders sein, wenn die Sucht in mir herrscht? Es geht mir nicht um mehr Wohlstand oder um mehr Gegenstände. Mehr Fraß will mein Körper. Mehr mehr mehr mehr mehr. Gebt mir mehr! Wer das bestimmt? Mein Verstand oder mein Unterbewusstsein, womöglich mein Herz? Meine Seele? Ein böser Geist? Niemand? Meine Augen folgen der Decke auf dem Boden und kurz flackert Wut auf, da die Decke mich entblößt hat. Mich nackt präsentiert. Vorzeigt. Das fühlt sich nicht gut an. Man möchte Tränen des Selbstmitleids unterdrücken, der Selbsthass überschwemmt einen wie eine riesige Welle, doch weinen möchte man nicht, weil man sich noch dreckiger fühlt. Das wäre ein Tiefpunkt und die Grenze wäre erreicht, die man aber noch nicht erreichen will. Denn dann ist es vorbei. Es? Man selbst. Meine Beine schlüpfen in Hosen der Größe XXXL. Man könnte meinen, das sei eine gute Größe, immerhin konnte man diese noch in Läden kaufen. Weit gefehlt. Es war ein Alptraum, sich zu bewegen. Die Kilos zogen einen runter. Gebückt wie eine alte schwerfällige Frau guckten einem unzählige Kerle hinterher. Nicht im positivem Sinne. Küche. Eltern. Streit. Niemand hört mir zu. Tür wird zugeschlagen. Zweite Tür zugeschlagen. Stille. Allein oder einsam? Nichts Neues? 11:32Uhr. Frühstück. Und nur manchmal wünscht man sich etwas anderes als Essen. Mein Leben folgt geregelten Bahnen. Frühstücken, zuhause arbeiten, Pizza bestellen, weiterarbeiten, Süßigkeiten essen, Fernsehen, Kuchen machen und über den Tag aufessen, vielleicht ein zwei Seiten lesen und weiter Fernsehen. Kontakt mit Freunden seit langem abgebrochen. Warum zuhause wohnen? Ganz einfach. Kein Haushalt, der erledigt werden muss und auch kein Zwang rauszugehen zum Lebensmittel Einkauf. Luxus. Würde meine Mutter alles nur öfters tun. Und das war mein Leben. Durfte man sein eigenes Leben selbst als uninteressant und langweilig, ja, nicht unbedingt lebenswert bezeichnen? Die Tür zur Toilette steht offen. Unten in der Ecke steht sie. Die Waage. Das letzte Mal wog mein Körper 167kg. Das war vor 4 Jahren. Vor 22 Jahren war es nur leichtes Übergewicht, hatte der Arzt gesagt. Wie es so weit kommen konnte? Man muss nur mein Leben führen. Dann weiß man es. Vielleicht ist mein Leben unspektakulär, dennoch wagt mein Verstand, mein restliches Selbstwertgefühl, mir zu beteuern, es sei einzigartig. Du bist fett. Aber dein Leben ist einzigartig. Du bist faul. Du bist hässlich. Du bist nutzlos. Aber meine Lebensweise ist einmalig. Wenn es schlimm wird und die Türen im Haus eine ganze Zeit lang geschlossen bleiben und es im ganzen Haus düster ist und wenn es ganz schlimm wird und alle Fenster zugeriegelt sind, und es nach Alkohol stinkt, und überall Müll herum liegt und wenn es dann wieder heller wird und die Stimmen von Menschen wieder laut werden und gegeneinander heulen, schreien und um sich geschlagen wird, dann ist es schon zu spät für das Mädchen. Wer weiß, ob sie jemals Liebe erfahren hat. Oder wenn, wie lange und wie intensiv. Wie bedingungslos hat jemand dieses Mädchen mit seinen Armen an sich gedrückt und gehalten? Ganz fest gehalten? Woher könnte man wissen, dass dieses Mädchen schon von klein auf den Glauben an die Liebe verloren hat? Manchmal, wünschte man sich etwas anderes als Essen. Dass das Leben anders verlaufen wäre. Wenn die Schwäche nicht da gewesen wäre, sondern mehr Mut. Mehr Stärke? Woran lag es, dass das Leben einem nicht mehr passte? An mir? An ihnen? Konnte irgendjemand anderes Schuld tragen außer mir? Die Küchentür wird von mir zugeschlagen. Meine Eltern streiten weiter. Die Treppen werden von mir erklommen. Andauerndes Gebrüll von meinem Vater und Gekreische von meiner Mutter. Arbeitszimmer. Mein Stuhl, mein Tisch, meine Chipstüte. Meine Welt. Die Tür fällt hinter mir ins Schloss. Der Computer fährt hoch. Der Bildschirm ist schwarz. Darin spiegelt sich ein Gesicht. Grüne Augen und braunes Haar in schwarz-weiß Tönen, mein Gesicht, meine Tränen. Das bin ich. Und ich habe beschlossen, etwas zu verändern. Ganz langsam umfasste ich die Tüte mit den Chips und warf sie in den Müll. Ich würdigte sie keines weiteren Blickes.
Alles über den Schreibwettbewerb
Autorin / Autor: Leonie, 17 Jahre