"Wenn deine Familie so reich ist, wieso bist du dann so hässlich?" Milena zuckte die Schultern, sah die Mitschülerin fragend an. Diese erklärte: "Na, ihr hättet doch echt genug Geld für Schönheits-OPs. Warum nutzt du das nicht?"
"Ich besteh auf meine Hässlichkeit", antwortete das Opfer nüchtern. Die Mitschülerinnen zogen kichernd von dannen und wieder konnte sie ihnen nur verständnislos hinterher schauen. Vermutlich würde sie nie verstehen, wie normale Menschen tickten. Sie sah die Welt schon immer etwas anders. Sie wurde immer wegen ihres Aussehens anders behandelt, aber sie hatte darin nie etwas Negatives gesehen. Im Gegenteil: Ihre oft so negativ bewertete Hässlichkeit empfand sie als Vorteil gegenüber anderen. Sie wusste, dass ihre Freunde sie für ihren Charakter mochten.
Bei den klassischen Schönheiten in ihrer Klasse hatte sie oft miterlebt, wie diese plötzlich von ihren "Freunden" im Stich gelassen wurden, wenn sie optisch nicht mehr mithalten konnten. Nur weil sie zugenommen hatten oder nicht mehr die neuesten Markenkleider trugen. Milena hingegen wusste bei ihren Freunden ganz genau, dass diese sie für ihren Charakter mochten. Hin und wieder versuchte sie auch, Madeleine ihre Meinung näher zu bringen. Als Argument führte sie dabei häufig ihre Schwester an. Die war hübsch und wurde von den meisten Leuten genau darauf reduziert. Dass sie auch intelligent und gebildet war, merkten die meisten garnicht. Sie sahen nur das kleine Blondchen in ihr. Madeleine schien nicht nachvollziehen zu können, warum das ein Problem sein sollte. Ihr war ihre Schönheit wichtiger als alles andere.
"Ich muss lernen", sagte Brian, als Madeleine ihn am Abend besuchte. "Ich helf dir", zwischerte sie fröhlich und ließ sich neben ihm auf das Sofa fallen. "Nerv nicht", sagte er nur. "Na komm schon", sie schnappte sich das Buch, das vor ihm lag, "ich frag dich ab." Unwirsch riss er ihr das Druckwerk aus den Fingern.
"Du verstehst davon eh nichts."
"Warum? Weil ich blond bin?"
"Ich liebe dich, aber das hier ist zu hoch für dich. Ich ruf dich an, wenn ich fertig bin."
"Wichser" sagte sie und lief ohne ein weiteres Wort weg. Ihr Freund machte keinerlei Anstalten, ihr hinterher zu laufen. Vielleicht hatte die kleine Hässlette aus ihrer Klasse doch Recht und es lag an ihrem Aussehen. Vielleicht war sie zu hübsch für diese Welt. Der Gedanke zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Zu hübsch. Das war ein Problem, mit dem sie leben konnte. Niemals würde sie ihre hübsche Fassade aufgeben, damit andere einen Blick auf ihre inneren Werte warfen. Die Leute, die es wert waren, würden ihre inneren Werte auch so erkennen. Brian war es offensichtlich nicht. Aber egal, ein hübsches Mädchen wie sie hatte es leicht, jemand anderen zu finden. Sie vertiefte sich weiter in ihre Gedanken bis das hastige Hupen eines sich nähernden Autos sie schlagartig zurück in die Realität holte.
Langsam wurde sie wieder wach. Ihre Augenlider waren zu schwer, um sie zu öffnen. Vielleicht hätte sie am Morgen doch nicht ganz soviel Lidschatten auftragen sollen. Aber konnte der wirklich so schwer sein? Ihr Kopf dröhnte.
Sie überlegte, wo sie war und was überhaupt passiert war. War gestern Abend irgendeine wilde Party und sie hatte zuviel getrunken? Ja, das konnte gut sein. Das würde auch die Kopfschmerzen und die schweren Lider erklären. Aber sie konnte sich an keine Party erinnern. Na klar - zuviel gesoffen. Blackout. War doch ganz normal. Schließlich rang sie sich doch durch, die Augen zu öffnen. "Sie ist wach!", rief eine aufgeregte Stimme. Die Gesichter ihrer Mutter und ihres Vaters erschienen in ihrem Blickfeld. Das sah erst recht nicht nach einer durchzechten Nacht aus. Höchstens eine durchzechte Nacht ihrer Eltern. Denn diese hatten tiefe Ringe unter den Augen und sahen aus, als hätten sie lange nicht geschlafen. "Mann, seht ihr scheiße aus", murmelte sie. Sie erwartete, dass ihre Eltern sie hierfür anbrüllen würden. Stattdessen versuchte ihre Mutter sogar zu lächeln während ihr Tränen über die Wangen kullerten.
Erst im Verlauf der folgenden Wochen begriff sie nach und nach, was geschehen war: Sie hatte einen Unfall und obwohl sich der größte Teil ihres Körpers wieder erholte, blieben schreckliche Narben zurück. Vor allem in ihrem Gesicht. Gemeinsam mit ihrer Mutter führte sie viele Diskussionen mit den behandeldenden Ärzten. Diese waren sich einig: Die Narben würden niemals verschwinden. Man könnte sie zwar operativ entfernen, aber da sie keine gesundheitliche Beeinträchtigung darstellten, wurden solche Operationen nicht von der Krankenkasse bezahlt. Und Madeleines Eltern waren nicht gerade reich. Auf eigene Kosten konnten sie sich so etwas auf keinen Fall leisten.
„Ich ertrag das nicht“, jammerte Madeleine immer wieder, „ich kann so nicht leben“.
Ihre Mutter versprach: „Keine Sorge, Süße. Wir finden einen Weg, das Geld für diese Operation zusammenzubekommen. Du musst nur noch eine Weile durchhalten.“
Der erste Schultag nach dem Unfall war ein einziger Albtraum für Madeleine: Schüler standen in Gruppen zusammen, schauten zu ihr rüber, bevor sie ihre Köpfe zusammensteckten und tuschelten. Ihre früheren besten Freunde hielten sich plötzlich von ihr fern.
Nur Milena war überraschend nett. Eigentlich hätte Madeleine erwartet, dass gerade die die Gelegenheit nutzen würde, um ihr die früheren Mobbingattacken heimzuzahlen. Stattdessen nahm sie sich Zeit für die frühere Erzfeindin und führte mit ihr viele Gespräche über das Thema Schönheit, in deren Verlauf sich Madeleine nun doch davon überzeugen ließ, dass es Vorteile hatte, nicht dem gängigen Schönheitsideal zu entsprechen.
„Hey Kleines, ich habe fantastische Nachrichten für dich“, erzählte Madeleines Mutter einige Monate später, „Dein Vater und ich haben endlich das Geld für die Operation zusammen.“
„Operation?“ Das Mädchen brauchte einen Moment, um zu begreifen, wovon ihre Mutter redete. Dann lachte sie und schüttelte den Kopf.
„Ich besteh auf meine Hässlichkeit.“