Es klappt nicht mehr. Verloren, vermute ich da mal. Ich bin verloren. Tief in mir ist ein Gefühl, das ich nicht benennen kann. Das Einzige, was ich dazu sagen kann, ist, dass es mich zerstört. Ich fühle mich zerrissen zwischen zwei Welten, von denen ich nicht eine kenne.
Die eine scheint die reale Welt zu sein, in der mir trotz der Existenz all der realen Dinge doch alles surreal vorkommt. In dieser Welt bin ich falsch, aber ich kann mich auch nicht aus ihr befreien. Ich bin gefangen, wie in einem Netz aus Fäden, die ich nicht zu definieren vermag. Ich habe Angst, denn ich bin nicht Zuhause. Ich bin entführt und werde festgehalten – einzig und allein von einem Gefühl.
Von dem Gefühl, allein zu sein.
Die andere Welt scheint es nur in Büchern oder Filmen zu geben. Es ist die perfekte Welt, in der jeder einen Platz hat. Nichts geht schief, denn alle haben bereits ihre Bestimmung entdeckt. Das ist es, was mich zerreißt. Zu wissen, dass ich meine Bestimmung gefunden habe und gleichzeitig die Erkenntnis in mir zu tragen, dass ich dieser Bestimmung wohl niemals werde folgen können.
Alicia sitzt in dem großen Sessel ihrer Urgroßmutter. Stumm starrt sie hinaus aus dem Fenster und hinein in eine Welt, die ich niemals zu betreten vermag. Der Schal, an dem sie strickt, liegt unberührt auf ihrem Schoß. Heiße Tränen rollen über Alicias Gesicht und ich spüre Sehnsucht in mir aufsteigen.
Tiefe Sehnsucht von dem Wunsch, sie nach Hause zu bringen. Sie ist so schrecklich einsam und ich werde das Gefühl nicht los, dass ich schuld daran bin.
Ich trete von hinten an den abgewetzten Sessel heran. „Lass mir doch die Träume.“, faucht sie mit tränenerstickter Stimme. „Sie sind mein Zuhause. Mein wahres Zuhause. Lass mich frei, ich muss ihn retten.“ Hilflos blicke ich ebenfalls durch das Fenster.
Und was ich erblicke, ist grenzenlos. Die Erde scheint aufzuhören, sich zu drehen, die Welt steht still. Doch hinter diesem Fenster, da sehe ich mich auf einem riesigen Mustang, fliegend in der Unendlichkeit. Ich kneife meine Augen zu, und als ich sie wieder öffne, sehe ich Alicia. Sie steht neben einem noch größeren Pferd. Es hat die Farbe von Sand und tiefdunkle, schwarz umrandete Augen. Schwer hebt das Tier seinen Kopf und blickt mich an. Erschrocken ziehe ich die Luft ein.
Ich habe noch niemals ein so trauriges Gesicht gesehen. Plötzlich verschwimmt das Porträt des Tieres und Alicias blaue Augen blicken mir unverwandt ins Gesicht.
Siehst du, scheinen sie zu sagen. Lass mich frei, lass mich frei, lass mich… Ihre Stimme erstickt. Ich muss ihn retten…
Unwillkürlich beuge ich mich weiter über die Sessellehne, um Alicias Stimme besser zu verstehen, denn sie gleicht einem Flüstern. Doch ein harscher Luftzug weht mir ins Gesicht, nimmt mir die Sicht, lässt mich die Augen reflexartig schließen. Nach dem Abflachen des Windstoßes blinzele ich und öffne die Augen. Alicia ist verschwunden, der Mustang wieder da. Ich höre ihn leise wiehern und weiß, dass es ein Schrei ist voll unerfüllter Wünsche, voll Trauer und Sehnsucht, voll Einsamkeit.
Und mich überkommt der Gedanke stärker denn je, dass ich Alicia retten muss, ja, dass ich sie zu diesem Pferd bringen muss.
Ich schließe meine Augen und beginne, zu träumen, von einer Welt, die mir unbekannt ist. Ich beginne zu fliegen, zu fallen, zu schweben. In mir summt es, es rauscht und ich höre ein entferntes Wiehern. Ein Wiehern, erfüllt von Glück und Freiheit, von unbändiger Kraft und Liebe.
„Pass auf sie auf.“, wispere ich.
Und ein letztes Mal vernehme ich Alicias Stimme in mir. Es ist ein Lachen, das aus ihrer Kehle steigt wie ein kleiner wilder Vogel und mir wird bewusst, dass ich sie zum ersten Mal so glücklich sehe.
Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, als ich Alicia auf dem Mustang sehe, fliegend, fallend, schwebend – glücklich.
Dann verschwindet sie – im Fenster ihrer Träume…