LEER GEFÜLLT

Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Lucia, 19 Jahre

Obwohl ich gerade gegessen habe, habe ich Hunger.
Mein Körper schreit nach Nahrung.
Aber ich halte mir die Ohren zu, gebe vor, seine Sprache nicht zu verstehen. Habe es so lange vorgegeben, dass ich seine Sprache wirklich nicht mehr verstehen kann. Wir sind uns fremd, mein Körper und ich. Und solange ich ihn nicht versorge, versorge mit der Art von Nahrung, nach der er verlangt, welche auch immer das sein mag, solange ich ihm nicht zuhöre und bereit bin, seine Sprache zu lernen, wird sich daran auch nichts ändern. 

Wer sagt mir, wer ich bin, wenn nicht die Zahl auf der Waage es tut? Sie verändert sich, ist variabel. Mein Körper verändert sich, ist variabel, nimmt verschiedene Formen an. Ich verändere mich, bin variabel, nehme verschiedene Formen an, bin nicht eine, sondern viele. Die Zahl soll konstant bleiben, konstant niedrig. Mein Körper soll konstant bleiben, konstant dünn. Ich soll konstant bleiben, konstant selbstentwertend.
Die Gewichtszunahme bewirkt, dass ich mich spüre.
Spüre, dass ich raus will aus meinem Körper.
Spüre, dass ich traurig bin.
Spüre, dass ich spüren kann.

Ich kann mich nicht ausdrücken, was soll ich auch ausdrücken, ich bin ja viel zu sehr damit beschäftigt, mich über meine Leere zu definieren. Ich kann mich nicht ausdrücken, weil es in mir nichts gibt, das auszudrücken wäre. Schreiben ohne Inhalt. Denken ohne Inhalt. Schreiben über Denken ohne Inhalt. Denken über Schreiben ohne Inhalt. Wie zwei Spiegel, die das Bild nicht aufnehmen, sondern es sich nur immer wieder einander zuwerfen. Nimm du es. Gibt es ein Bild? Vielleicht werfen sich die Spiegel nur noch ihren Glauben an ein Bild zu. Das Bild ist beim Einanderzuwerfen verloren gegangen.

Ich lese ein Buch und sehe meine Leerheit gespiegelt. Wenn ich sogar mit meiner Leerheit nichts Besonderes mehr bin, dann bin ich ja noch überflüssiger als ohnehin schon. Dann bin ich doppelt überflüssig, vielleicht bin ich dann schon wieder unterflüssig, doppelte Verneinung und so. Es beruhigt mich, dass andere ihre Probleme auch nicht definieren können, dass sie eigentlich überhaupt keine Probleme haben und genau das ja irgendwie auch ihr Problem ist. Ist auch mein Problem, diese ganze Problemlosigkeit. Wenn da doch etwas wäre, auf das ich mich beziehen könnte, wäre ich dieses blödsinnige Meta-Problem endlich los und könnte mir ein richtiges leisten. Aber nicht mal dazu reicht es und da ist es auch nicht ganz einfach, auf etwas wütend zu sein und wer bleibt da schon noch übrig außer einem selbst. Und dann kann man sich selbst dafür hassen, dass man sich selbst hasst. Dann kann ich mich selbst dafür hassen, dass ich mich selbst hasse. So ist das nämlich.

Gestern auf dem Konzert ist mir die Frage nicht aus dem Kopf gegangen, ob Kaugummikauen mich von meiner Umwelt distanziert oder die Eindrücke verstärkt. Letztlich habe ich mich dazu entschieden, dass ersteres wohl eher auf mich zutrifft. Die Frische von Pfefferminz und anderen Geschmacksverstärkern macht mich aufmerksam und gibt mir etwas, auf das ich mich konzentrieren kann. Aber es nimmt der Umgebung ihre Eigenheit und sorgt, ähnlich wie die Gedanken ans Essen, für eine sichere Gleichmäßigkeit. Es demonstriert meiner Umwelt, ich höre dir zwar zu, aber in erster Linie kaue ich Kaugummi und deshalb ist es mir ziemlich egal, was du mir erzählst oder was ich dir erzähle, denn mein Kaugummi gibt mir Grund genug, hier zu sein oder woanders, mit meinen Gedanken und meinem Körper. Das Kaugummi schmeckt immer gleich, egal ob der Sänger im Hier und Jetzt ist und versucht, eine Beziehung zu den Zuhörern aufzubauen oder ob er mit seinen Gedanken bei seiner Schildkrötensammlung ist. Auch wenn er von seinem Freund erzählt, mit dem er das Lied geschrieben hat, der Freund, der sich tot gesoffen hat, schmeckt das Kaugummi wie es eben schmeckt und interessiert sich einen Scheiß für die Menschen und Geschichten und Erinnerungen und Sehnsüchte und den ganzen Rest um sich herum.
Und mit dem Denken über das Kaugummikauen und die Distanzierung und das Denken entferne ich mich noch weiter von dem Konzert und dem Sänger, der versucht, seinen Zuhörern nahe zu sein. Mein knurrender Magen unterstützt das Kaugummi mit einem süffisanten Grinsen. Und wie ich mir die beiden so ansehe, entferne ich mich auch von ihnen, denn nirgendwo kann ich bleiben, außer auf der Treppe zwischen einer Ebene und der nächsten.

Autorin / Autor: Lucia, 19 Jahre