Sie wusste, dass sie sterben würde. Sie konnte spüren, wie etwas Bedrohliches durch ihren Körper schlich und sich leise in ihr breit machte. Etwas Tödliches. Es war kein Zufall oder gar Unfall, denn sie hatte es so gewollt, und doch hatte sie jetzt Angst. Eine Angst, die tief aus ihrem Inneren zu kommen schien und sie fest in ihrem eisigen Klammergriff hielt. Ihre Hand zitterte, aber das nahm sie kaum noch war. Ihre Umgebung verzerrte sich, wie ein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche eines Sees, das der Wind zerstörte. Die Angst beherrschte sie, in ihren Gedanken hörte sie nur ein Wort: Tod. Es hallte in ihr wieder, erfüllte sie und legte ihren Verstand lahm. Sie fühlte sich hilflos, schwach und allein gelassen, wie ein von seiner Mutter verstoßenes Kind. Noch nie hatte sie jemand verstanden und so war niemand hier, um sie aufzuhalten. Wieso sollte es jetzt so sein? Sie würde sich nicht aufhalten lassen, denn ihr Entschluss stand schon lange fest. Nur ihr schlechtes Gewissen hatte sie zögern lassen. Langsam gewöhnte sie sich an ihre Gedanken und begann schließlich sogar Gefallen an ihnen zu finden. Erst hauchend, dann flüsternd strömten Worte über ihre von der Kälte blau gefärbten Lippen. Sie konnte und wollte sie nicht kontrollieren. Von ihrer Zunge geformt, drangen sie nach Außen und drohten die scheinbar heile Welt um sie herum zu erschüttern. Tod. Tod. Tod! Nun schrie sie die Worte in die Dunkelheit der Nacht, doch sie verklangen ungehört in der unerträglich erdrückenden Stille, die ihr die Luft zum atmen raubte und sie wieder zum Schweigen brachte. Tod. Ein schönes, kurzes Wort. Zwei Konsonanten, ein Vokal. Nur drei Buchstaben waren in der Lage, Leben zu verändern und unbeschreibliche Schmerzen zu vermitteln. Sie konnten tiefe, unheilbare Wunden in die Herzen der Menschen ritzen und alle Hoffnung auslöschen, wie ein Luftzug, der über eine Kerzenflamme hinweg fegt. Drei kleine Buchstaben, ausgesprochen in weniger als einer Sekunde. Sie gab sich völlig ihrem Wortspiel hin und genoss einen Moment innerer Ruhe. Es lenkte sie von all den Dingen ab, die sie sonst belasteten. Die Gewissheit, nicht perfekt sein zu können, erfüllte sie mit Hass auf sich selbst. Eine Schneeflocke landete sanft auf ihrem Handrücken, und die Kälte durchbohrte ihre Haut schmerzhaft, wie eine spitze Nadel. Sie dachte an den Brief zurück, der zu Hause in einem gelben Umschlag auf ihrem Bett lag und darauf wartete, gelesen zu werden. Sie hatte ihn an ihren Vater geschrieben. Nicht mit dem Computer, sondern sorgsam mit ihrer Hand hatte sie die einzelnen Buchstaben auf das Blatt gemalt und zugesehen, wie es sich langsam füllte. Während sie geschrieben hatte, blinzelte sie eine Träne aus ihrem feuchten Augenwinkel. Sie kullerte ihre Wange herunter und tropfte auf den halb fertigen Brief. An dieser Stelle war das Blatt aufgeweicht und die blaue Tinte zerlaufen. In ihren Gedanken las sie sich den Brief nochmals vor:
Lieber Papa,
zuerst will ich dir sagen, dass es mir Leid tut. Es wird schwer für dich sein, meine Entscheidung zu verstehen, doch wirst du sie früher oder später akzeptieren müssen. Vielleicht wird sie dein Leben auch erleichtern, da ich dir keine Last mehr sein werde. Ich weiß, wie wenig Geld wir haben, seit Mama nicht mehr da ist und du deine Arbeit verloren hast. Auch will ich nicht, dass du ein schlechtes Gewissen hast, denn Schuldgefühle sind schmerzvoll. Du hättest nichts an der jetzigen Situation ändern oder sie verhindern können. Deshalb solltest du dich nicht verantwortlich dafür machen. Dass du und Mama euch geschieden habt, war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Du warst ein guter, verständnisvoller Vater und hast dich immer darum bemüht, dass ich mein Leben positiver sehe. Doch um dir die Wahrheit zu sagen, sehe ich schon länger keinen Sinn mehr darin, mich weiterhin zu quälen. Mein Hass auf mich selbst ist größer als alles andere und lässt kaum anderen Gefühlen Platz. Ich hasse mich dafür, dass ich diesen Brief schreibe und dafür, was ich beschlossen habe. Ich werde dich und meinen Bruder allein lassen, obwohl ich weiß, dass ihr auch Probleme habt und mich braucht. Sam hat eure Trennung mehr mitgenommen als mich, und ich hätte mehr für ihn da sein sollen. Bitte versuch ihn zu trösten. Er leidet sehr unter dem Ganzen. Sag Sam auch, dass er sich keine Vorwürfe machen soll. Meine Verpflichtung euch gegenüber war es, die mich so lange hat zögern lassen, und doch habe ich mich egoistisch für die Flucht entschieden. Ihr werdet mir das wahrscheinlich nie verzeihen können, und ich verlange es auch nicht, aber ich hoffe, dass ich für euch trotzdem in guter Erinnerung bleiben werde. Mein Ziel war es nie, euch zu verletzten, doch ich sehe keine andere Möglichkeit, als euch im Stich zu lassen. Mach dir keine Sorgen um mich. Freitod ist nichts Schlimmes. Bitte such nicht nach mir. Wenn du es trotzdem tun und mich finden solltest, versuch nicht, mich wieder ins Leben zurück zu holen, auch wenn es schwer ist, denn es würde weder mich, noch euch glücklich machen.
Ich habe den Sonnenuntergang für mich gewählt.
Deine dich für immer liebende Tochter
Sie hatte ihren Vater in dem Schreiben nicht belogen. Die Scheidung ihrer Eltern war nur eine Nebensächlichkeit gewesen. Nie wichtig genug, um sich länger darüber Gedanken zu machen. Gründe für ihre Entscheidung waren andere. Sie zerbrach an dem ständigen Vergleich mit ihren Mitschülern, wie ein Eiszapfen, der von einem Dach fiel und auf dem Asphalt in tausend kleine Stücke zersprang. In der Schule stand sie ständig unter Druck. Nicht durch die Lehrer, sondern durch ihre ständige Angst zu scheitern und schlechter zu sein als die anderen. Sie hatte schon lange aufgehört, sich über Erfolge zu freuen, da es immer jemanden gab, der besser war als sie. In ihrer Klasse war sie keine Außenseiterin, aber Freunde, auf die sie sich verlassen konnte, hatte sie nicht. Es herrschte ein ständiger Konkurrenzkampf unter den Mädchen. Sie war eine ausdauernde Kämpferin, aber sie hatte keine Kraft mehr, sich mit ihnen zu messen. Oftmals lernte sie bis spät in die Nacht, um eine gute Note zu erzielen. Je mehr sie sich in einer Sache verbiss und krampfhaft versuchte, sich zufrieden zu stellen, umso niederschmetternder war es für sie zu sehen, kaum besser als der Durchschnitt zu sein. Die durch den Schlafmangel entstandenen Augenringe, die zu ihrem Gesicht gehörten wie ihre Nase, deckte sie mit Make-up ab, damit sie nicht so sehr auffielen, da sie befürchtete, dass sie von ihren Mitschülern als hässlich verurteilt werden könnte. Außerdem aß sie nur noch Gemüse, obwohl ihre Hüftknochen bereits herausstachen. Was konnte sie schon? Sie hatte kein ungewöhnliches Talent, sah nicht besonders gut aus und wies keine herausragenden schulischen Leistungen auf. In ihrer gekrümmten Position lag sie im Schnee. Der Nachthimmel war voller weißer Tupfer. Ihre Finger konnte sie kaum noch bewegen und ihre Kleidung war durchnässt. Trotzdem verspürte sie eine seltsame Zufriedenheit. Ihre Wimperntusche war verschmiert und ihre Mütze passte nicht zu dem Mantel. Aber das spielte keine Rolle mehr. Der Wind sang ein Lied für sie und wirbelte die Schneeflocken hin und her. Vor ihren Augen wurde alles schwarz. Sie hörte noch den Schrei einer Eule, dann war da nichts mehr.