Liebe Toni,
das was ich hier schreibe, wirst du nie zu Gesicht bekommen. Ist, denk ich, auch besser so, weil du es gar nicht erst erfahren darfst. Damit würde die Situation für uns beide nur erheblich erschwert werden. Doch ich muss es aufschreiben, sonst habe ich das Gefühl daran zu ersticken. Aber ich habe Angst. Angst davor, wie du reagierst wenn du es trotzdem erfährst. Davor, was passiert, wenn es jemand anderes mitbekommt.
Ich kann mich noch gut an unsere ersten Stunden erinnern und frage mich immer wieder, wie du es geschafft hast, dass ich dir innerhalb weniger Wochen so sehr vertrauen konnte. Irgendwie war sofort dieses Geborgenheitsgefühl und Urvertrauen da. Und ich möchte mich bei dir bedanken, für jedes tröstende Wort oder Geste, fürs Mutmachen, für die Unter-stützung und einfach bloß fürs Zuhören. Es ist nur… das was ich für dich empfinde… meine Gefühle sind stärker geworden. Auf eine Weise, die weder bedenkenlos, geschweige denn gut ist. Ganz im Gegenteil.
Du hast mich mal gefragt, warum ich in Englisch so bedrückt wirke. Ich weiß es selbst nicht so genau, aber im Theater fällt es mir leichter mit der Situation umzugehen. Vielleicht weil ich mich ein bisschen hinter den Rollen verstecken kann. Oder weil die Atmosphäre in den Proben nicht so wie im normalem Unterricht ist. Sondern lockerer, freundschaftlicher. Schöner. Im Klassenzimmer fällt es mir schwer meinen Kopf da zu behalten, wo er hin gehört. Und eigentlich ist es egal, ob das jetzt e-Funktionen oder das amerikanische Regierung-ssystem ist. Wenn du da vorne stehst und vom American Dream erzählst, oder dass die Todesstrafe eigentlich total zwecklos ist… Obwohl das ein ernstes Thema ist, breitet sich in mir eine wohlige Wärme aus. Vom Herz in den Bauch bis zu den Finger- und Zehenspitzen. Ich könnte dir ewig zuhören. Doch gleichzeitig wird mir klar, wie sinnlos und idiotisch das alles ist. Ich lande wieder unsanft auf dem Boden der Tatsachen. Und mein Verstand sagt deutlich ‚so darfst du nicht denken‘, nur ist das meinem Herzen leider vollkommen egal. Ich will das alles gar nicht fühlen, ehrlich, aber ignorieren kann ich es nicht. Ich hab’s versucht, doch ich kann diese Gefühle nicht verdrängen. Sie sind da und wollen raus. Nur das geht nicht, deshalb drängen sie sich einfach irgendwann ihren Weg nach draußen und ich breche ein. Ob mir das passt oder nicht.
Erstaunlicherweise ist das auf der Bühne anders. Mit jedem Lächeln das du mir während den Proben schenkst, lässt du mich ein Stück lebendiger fühlen. Es macht riesigen Spaß das Stück auf die Beine zu stellen und in deinem Blick Freude, Optimismus und Stolz lesen zu können ist besser als 15 Punkte in Mathe. Du strahlst so viel Energie aus und diese Energie überträgt sich zu hundert Prozent auf mich. Das sind die Momente in denen ich denke alles schaffen zu können. Vergessen sind die schwierigen Umstände, die schlaflosen Nächte oder die unterpunkteten Arbeiten. Es ist unglaublich was du in mir auslöst. Wie mein Körper auf dich reagiert und ich nicht die geringste Kontrolle darüber habe. Wenn sich unsere Blicke treffen, kann ich nicht anders als in deinen Augen unterzugehen, nur um dann mit leuch-tendroten Ohren wieder aufzutauchen und den Kopf senken zu müssen. Oder wenn du uns zeigst, wie wir spielen sollen und du mich dabei berührst, sei‘s am Arm oder Rücken, ist es, als wäre ein Kilo Ahoi-Brause in meinen Bauch geschüttet worden.
Ich möchte in deiner Nähe sein, am besten allein. So, wie im Anschluss an die Proben, nach der zehnten Stunde ist einfach kein anderer mehr da. Wir uns unterhalten können, über die Schule, die Wirtschaft meiner Eltern, oder Gott und die Welt. Ich dachte eigentlich immer, dass das menschliche Skelett stabil wäre, jedoch fühlen sich meine Knie in diesen Augenblicken nicht so an. Eher wie Pudding und ein kleiner Schubs reicht aus, um das Gleichgewicht zu verlieren. Und wenn wir dann reden, du mir dabei fürsorglich über den Rücken streichelst, ist es als würde die Welt aufhören sich zu drehen. Alles was wichtig ist, sitzt neben mir auf der Treppe zur Bühne und der Rest ist mir dann egal. Ich muss meine gesamte Konzentration aufbringen, oder das bisschen, was davon übrig ist, um meinen Gefühlen standzuhalten. Mich ihnen nicht hinzugeben und dir auf eine intensivere Art näher zu kommen, als gut ist.
Es ist wie eine Strafe für mich, im normalem Schulalltag die Distanz zu halten. Wann immer ich dich im Gang oder in den Pausen sehe und dich nicht in meine Arme schließen darf. Bis jetzt kann ich es hinunterschlucken, noch. Die Frage ist nur, wie lange das auch weiterhin funktioniert. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich mir eingestehen konnte, was da passiert. Was du mit mir machst. Gerade du.
Ich weiß, dass du mit einer unüberlegten Tat mir gegenüber deinen Job verlieren könntest. Und das ist das letzte, was ich möchte. Doch trotzdem komme ich nicht darum herum, davon zu träumen, dich bei mir zu haben. Dass das, was ich mir wünsche keine Zukunft hat und sogar verboten ist, darüber bin ich mir im Klaren. Ich meine, du bist meine Lehrerin.
Johanna lies ihren Kopf auf das Papier sinken. Ja, sie war ihre Lehrerin. Und dieser Schutzbefohlenen-Paragraph im Gesetzbuch war schuld daran, dass ihr leise einzelne Tränen über die Wangen liefen. Früher hatte sie nie verstanden, wie ein Mensch stumm weinen kann, aber mittlerweile hatte sie selbst genügend Übung darin.