Gekonnt strich Julie ihren Lidstrich nach, trug ein letztes bisschen Rouge auf und betrachtete sich prüfend im Spiegel: Die Beanie-Mütze verstecke ihren Haaransatz, der dringend mal wieder nachgefärbt werden musste, ihre Augen wirkten dank jeder Menge Wimperntusche riesig. Ein Push-up-BH verlieh ihr eine recht ansehnliche Oberweite, während ihr Babydoll-Top ihre Hüften etwas kaschierte. Ihre Lieblingsjeans ließen ihre Oberschenkel etwas weniger kräftig aussehen und die Stiefel schummelten wenigstens ein paar Zentimeter Beinlänge hinzu. Julie sah gut aus, das wusste sie. Sie bekam es auch oft genug zu hören. Aber wohl fühlte sie sich deshalb noch lange nicht in ihrer Haut. Es gab einhundert Dinge, die sie an sich geändert hätte, wenn sie gekonnt hätte. Zum Beispiel ihre „Boxernase“, die sie von ihrem Opa väterlicherseits geerbt hatte, oder die nicht vorhandene Oberweite, die sie eindeutig von ihrer Mutter hatte. Oder ihre Füße: Schuhgröße 40 war Julies Meinung nach viel zu groß für ein Mädchen. Auch ihre rotblonden Haare, die ihr in der Grundschule viel Spott eingebracht hatten, hätte sie liebend gerne gegen eine stinknormale blonde Mähne eingetauscht.
Julie wandte sich vom Spiegel ab. Ein besseres Ergebnis würde sie heute nicht hinbekommen, aber egal, sie musste ja nicht zur Schule oder so. Bloß zur Geburtstagsfeier ihrer Tante und dafür würde es schon reichen. Sie ging die Treppe hinunter. Ihre Mutter wartete bereits. Julie begutachte sie. „Du siehst gut aus“, stellte sie lächelnd fest. Und tief drinnen störte sie genau das. Es war nicht so, dass Julies Mutter hässlich war. Doch objektiv betrachtet war sie eher eine Durchschnittsfrau: sie hatte ein oder zwei Kilo zu viel auf den Rippen, schulterlange, braune Haare und trug langweilige Jeans zu einem zweifarbigen Sweatshirt und dazu schwarze Stiefeletten. Trotzdem hatte sie etwas an sich, was keinen Zweifel daran zuließ, dass sie doch mehr war, als bloß „Durchschnitt“. Julie beneidete sie insgeheim um dieses Etwas und hatte schon oft gerätselt, was es denn genau war: die Augen, die Lippen, die Wangenknochen? Aber kam nicht dahinter. „Komm, wir müssen los“, riss Julies Mutter sie aus ihren Gedanken. Als sie nebeneinander im Auto saßen, sah Julies Mutter sie an. Sie blickte an ihr herunter und sah die Beanie-Mütze, das geschminkte Gesicht, die geschummelte Oberweite, das Top, die Jeans und die Schuhe. Dann lächelte sie. „Was ist?“, fragte Julie halb gereizt, halb neugierig. Immer noch lächelnd schüttelte ihre Mutter den Kopf und wandte sich wieder dem Verkehr vor ihr zu. „Mamaaa“, jammerte Julie. Lachend erwiderte ihre Mutter: „Ist ja schon gut. Ich habe mich nur gefragt, warum ihr Mädchen euch so verrückt macht wegen eures Aussehens“. Julie verdrehte die Augen. „Aber dann ist mir eingefallen, dass ich früher genauso war“, fügte ihre Mutter hinzu. „Echt?“, fragte Julie erstaunt. „Oh, ja. Ich war eher noch schlimmer. Jeden morgen habe ich meine Haare entweder geglättet oder gelockt, kein Schuhabsatz war zu hoch und kein Rock zu kurz“. Sie lachte. „Das ist wahrscheinlich nicht gerade etwas, das man von seiner Mutter hören möchte“, sagte sie zwinkernd. „Und was ist dann passiert?“, fragte Julie. „Warum siehst du das jetzt so anders?“. „Du willst dir wirklich eine ganze, langweilige Geschichte von deiner Mutter anhören?“, fragte ihre Mutter. Julie nickte.
„Okay, also wie gesagt, als ich in deinem Alter war dachte ich, genau wie du, dass ich mich Schminken und spezielle Kleidung tragen und auffallen muss, damit ich mich schön fühle. Habe mich beeinflussen lassen; von Medien, meinen Freundinnen, Jungs. Du kennst das ja. Jahrelang habe ich das so gelebt. Dann habe ich deinen Vater kennengelernt und auf einmal war alles anders.“ „Bis er uns verlassen hat“, funkte Julie schnippisch dazwischen. „Ich dachte, du wolltest die ganze Geschichte hören?“. „Sorry, red weiter“.
„Also, ich habe deinen Vater kennen gelernt und auf einmal war alles anders. So wie das Gras grüner und der Himmel blauer aussah, so fühlte ich mich so angenommen wie ich bin. Ich fühlte mich bei deinem Vater auch dann wohl, wenn ich morgens mit verschmierter Wimperntusche, ungemachten Haaren und in Jogginghose aus dem Bett kam. Er hat mir das Gefühl gegeben, dass ich schön bin. Auch dann, wenn ich mich nicht so gefühlt habe.“ „Wenn er so perfekt war, warum ist er dann nicht mehr da?!“ „Wann habe ich denn gesagt, dass er perfekt war. Um Himmels Willen, dieser Mann war ganz bestimmt nicht perfekt. Aber er hat mir dieses Gefühl gegeben. Aber du hast ja recht, er hat uns verlassen. Und das Gefühl war wieder weg. Kannst du dich an die Zeit direkt nach der Trennung eigentlich noch erinnern?“ Als Julie den Kopf schüttelte fuhr ihre Mutter fort: „Wenigstens eine von uns beiden, die sich nicht mehr erinnert. Jedenfalls ging es mir in der ersten Zeit nicht gut. Ich habe versucht wieder wie früher zu sein, habe mich geschminkt und bin viel ausgegangen. Und dann habe ich gemerkt, wie dämlich das eigentlich ist. Dein Vater fand mich damals schön, weil ich mich schön fand, weil er mir das Gefühl gegeben hat schön zu sein. Und trotzdem hat er mich verlassen. Warum also sollte ich mich weiter mit Make-up zukleistern und in viel zu enge Kleidung quetschen, wenn mir das auch keine Garantie geben konnte, geliebt zu werden. Denn das war es ja, was ich dachte. Dass ich automatisch geliebt werde, solange ich hübsch genug bin. Aber das stimmt nicht. Es kommt nicht auf die Hülle an, sondern auf das, was dahinter steckt. Ich habe angefangen, mich selbst so zu mögen, wie ich bin. Du solltest dein Körpergefühl oder dein Selbstbewusstsein nie von jemandem oder von etwas abhängig machen, das verschwinden könnte, verstehst du? Nicht von einem Mann und auch nicht von etwas anderem, zum Beispiel..“ Sie sah zu ihrer Tochter hinüber, ihr Blick erreichte ihre Finger.
„Zum Beispiel hübsch manikürte Finger. Was ist, wenn dir ein Nagel abbricht? Bist du dann weniger schön, als jetzt?“ Julie zog eine Grimasse. „Wahrscheinlich nicht“, antwortete sie.
„Natürlich nicht! Dein Selbstbewusstsein solltest du ganz alleine von der einzigen Person abhängig machen, die wirklich wichtig in deinem Leben ist. Nämlich von dir selbst. Es ist egal, was die anderen denken. Solange du glücklich bist, wie du bist wird man dir das auch ansehen. Das nennt man 'positive Ausstrahlung'“, sagte Julies Mutter augenzwinkernd.
„Das ist alles?“, fragte Julie. „Ich muss mich nur selbst mögen und zack geht es mir gut?“.
„Theoretisch ja. Aber das ist nicht immer so leicht, wie es sich vielleicht anhört. Trotzdem lohnt es sich, an dieser positiven Einstellung gegenüber dir selbst zu arbeiten. Aber wenn du es erst einmal geschafft hast, wirst du wissen, was ich meine“.
Julie drehte den Kopf und blickte aus dem Fenster. Jetzt wusste sie, worum sie ihre Mutter beneidete. Und sie hatte erkannt, dass sie sich diese 'positive Ausstrahlung' hart erarbeiten musste. Ob sie selbst das auch schaffen würde? Ob es ihr irgendwann egal sein konnte, was die anderen dachten? Ob sie sich so akzeptieren konnte, wie sie war; mit Boxernase, rotblonden Haaren und Schuhgröße 40? Sie hoffte es, denn dieses ganze sich-selbst-verstellen war auf Dauer doch etwas lästig.