*Der Wunsch*
Ein kleines, zierliches Mädchen stand mit großen Augen vor dem Badezimmerspiegel. Sie verstand die Worte der Anderen nicht, aber sie würde es gerne. Warum war dieser Junge hinter ihr hergerannt und hatte sie Schweinenase genannt? Warum war dieses Mädchen vor ihr zurückgewichen? Es blickte ihr dasselbe Gesicht entgegen wie immer. Sie beugte sich näher an den Spiegel. Sie sah es einfach nicht. Aber es sollte nicht mehr lange dauern, da verstand das kleine Mädchen, dass nicht jedes Kind mehrmals im Monat ins Krankenhaus musste. Dass nicht jedes sechsjährige Mädchen verblassende Narben am Oberkörper hatte. Nicht einer in ihrer Klasse hatte eine so große und unförmige Nase wie sie und keiner so komische Lippen. Ihr Blick in den Spiegel sollte sich schon bald verändern. Bis sie irgendwann nicht mehr ihr eigenes Gesicht im Spiegel sehen würde, sondern das Gesicht, das die anderen Kinder sahen. Das Gesicht einer Entstellten. Es gab Tage, da wendete sich das kleine Mädchen vom Spiegel ab, weil sie es nicht sehen wollte. Doch noch lachte das Mädchen und nahm es als selbstverständlich hin, dass diese bösen Jungen irgendwann aufgehört hatten sie über den Spielplatz zu jagen. „Frag sie nächstes Mal einfach, warum sie lachen, Schatz. Und wenn sie dir nicht antworten oder dir sagen: „Weil du komisch aussiehst“, dann wirst du ihnen einfach erklären, was du hast. Dann werden sie nicht mehr lachen.“ Sie war erst zehn Jahre alt, aber sie wusste, dass das niemals funktionieren würde. Sie wandte sich aus der tröstenden Umarmung ihrer Mutter und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie lächelte und versprach, dass sie es tun würde. Dann ging sie weiterhin lächelnd in ihr Zimmer. Sie wusste, dass das Lachen ihre Mutter beruhigen würde. Sie wusste nicht, dass es das erste von vielen Malen sein sollte, in denen sie ihrer Mutter mit einem Lächeln die Wahrheit verschweigen würde. Aber wie sollte sie ihrer Mutter auch sagen, dass es nicht ging, wie die Erwachsenen sich das vorstellten. Wie sollte sie den Gemeinen dort draußen etwas erklären, dass sie selbst nicht verstand? Wie könnte sie diese Kinder dazu bringen aufzuhören, wenn sie sich selbst jeden Tag im Spiegel am liebsten auslachen würde. Und so tat sie das Einzige, dass sie sich vorstellen konnte: Sie ignorierte. Sie zog Klamotten an, von denen sie dachte, dass sie cool seien. Versuchte die gleichen Dinge zu mögen wie die Anderen. Die gleichen Ausdrücke zu benutzen. Sie hatte noch immer die Hoffnung, nicht anders zu sein, wenn sie nur das Richtige tat. Genauso zu sein wie die - dafür würde sie alles tun. Einfach nur Durchschnitt.
*Das Leid*
„Du darfst es nicht so an dich rankommen lassen, weißt du?“ Mitleidig strich das blondgelockte Mädchen ihrer Freundin über die Schultern. „Du hast leicht reden. Dich bezeichnen sie auch nicht als Troll“ Kopfschüttelnd richtete sich das andere Mädchen auf. „Na und? Lass sie doch. Und jetzt komm. Wir müssen.“ Es gab niemanden, der sie verstand. Sie alle hatten keine Ahnung, wie es war. Und noch nie hatte sie sich so miss- und unverstanden gefühlt wie gerade jetzt. Mit zwölf Jahren ist es so einfach zu verletzen. Mit zwölf ist es so einfach verletzt zu werden. Niemand von denen hatte auch nur die leiseste Ahnung. Niemand wusste wie es war, das Zelten zu verpassen, weil sie sich nicht erkälten durfte vor der Op. Wie es war, die Exkursion nicht mitzumachen, auf die sich alle seit einem Jahr vorbereiteten, weil die Ärzte unbedingt so schnell wie möglich die Eingriffe vornehmen wollten. Sie hatten keine Ahnung wie es war, Blut zu spucken; sich vor Schmerzen nicht bewegen zu können; wochenlang nur Jogurth und Babybrei zu essen. Die sahen nur ihr Gesicht und, dass es anders war. „Du solltest wirklich da raus kommen. Triff dich doch mit jemanden“, rief ihre Mutter durch die verschlossene Tür. Das nicht mehr ganz so kleine Mädchen biss sich in den Knöchel, um nicht laut los zu heulen. Sie war alleine. Sie konnte nicht mehr so tun, als wäre sie wie die anderen. Sie hatte keine Kraft mehr dazu. Sie griff sich an den Bauch und fühlte die Leere in ihm. Sie war gerade auf einer Diät. In dem traurigen Versuch wenigstens etwas an ihrem Körper im Griff zu bekommen. Vielleicht würde jemand sie lieben, wenn sie dünn war. Außerdem war der Hunger ein gutes Gefühl. Er lenkte sie von der Traurigkeit ab, die sie mal wieder zu überrollen versuchte. Sie versuchte nicht an die Operation nächste Woche zu denken. Dabei würde sie vielleicht wieder abnehmen. Oder ... noch besser … vielleicht würde sie nicht mehr aufwachen. Es sollte lange dauern bis dieser Gedanke begann, ihr Angst zu machen. Das kleine Mädchen war inzwischen größer geworden. Einsamer. Verstockter. Mit jedem Tag driftete sie ein bisschen weiter weg. Alles was geschah, bezog sie nur noch auf ihren Makel. Irgendwann war es egal geworden, warum die Leute starrten oder lachten. Ob über ihre Kleidung oder über den Jungen hinter ihr. Ihr eigenes Lächeln war schon lange zu Eis geworden und ihr Herz schwarz. Es war ihr egal, dass sie ihre Mutter mit leiser Stimme über die normalen Teenagerprobleme reden hörte. Sie spürte nur die Traurigkeit; darüber bei den Tanzstunden keinen Partner gefunden zu haben; darüber jeden Tag dieselben verständnislosen Gesichter ihrer Freunde zu sehen. Traurig darüber, dass sie nicht so sein konnte wie die anderen. Wie oft sie den Spiegel am liebsten zerschlagen hätte, der ihr immer und immer wieder das gleiche Gesicht zeigte.
*Die Akzeptanz*
Mit langsamen Schritten ging ich mit meinen Koffer auf die kleine Menschengruppe zu, die am Bahnhof stand und wartete. Ich lächelte schüchtern und als die anderen mich sahen, breitete sich auch auf ihren Gesichtern Lachen aus. Es war ein freundliches Lachen voller Wärme. Ich fühlte mich angenommen und willkommen. Zum ersten Mal seit ich sieben war, hatte ich keine Angst aufzufallen oder nicht angenommen zu werden. Und als ich ihre Gesichter genauer betrachtete, da fielen mir nicht, die Dinge auf, die ich immer sah, wenn ich in den Spiegel schaute. Nein, es waren ihre Augen, die mich fesselten. Sie erzählten meine Geschichte. Ich fühlte auf einem Mal: Ich war nicht allein. Und ich sah: Man konnte auch mit dem Makel und ohne Traurigkeit leben. Und an diesem Wochenende mit all den anderen Betroffenen veränderte sich etwas in mir. Es war nicht mein Aussehen, das sich änderte. Es war mein Blick auf die Welt. Es war meine Einstellung zu mir selbst. Ich hörte auf, mein Leben auf meinen Makel auszurichten. Ich verstand endlich, dass die Anderen nur das sahen, was ich auch sah. Fühlten, was ich fühlte. Ich verstand, dass sie mich nicht mieden, weil ich anders aussah. Sie mieden mich, weil ich nicht lächelte und nur muffelte. Schritt für Schritt in den folgenden Jahren begann ich endlich mich nicht nur als Janna mit der Lippen-Kiefern-Gaumenspalte zu sehen. Ich bin Janna, die gerne liest, reist und fotografiert. Ich bin Janna, die bald ihr Jurastudium beginnt. Ich bin Janna mit den schönen Augen.
Zwar bin ich auch Janna, das kleine Mädchen. Eins der 1400 Kinder, das mit Lippen-Kiefern-Gaumenspalte geboren worden ist. Aber ich hasse es auch, wenn jemand ungerecht behandelt wird. Ich habe noch immer Schwierigkeiten auf Menschen zu zugehen. Aber ich würde niemals jemanden für eine hässliche Jeans auslachen. Ich kann noch immer nicht ertragen, wenn mich jemand anstarrt. Aber niemals würde ich mich aufgeben. All die Leute, die mich verletzten, haben mir eine Sache gegeben: Die Gewissheit, niemals so zu werden wie sie. Ich bin anders. Und obwohl ich noch immer ein bisschen traurig bin, kann ich doch sagen, dass ich inzwischen wieder in den Spiegel sehen kann und mir lächelnde Augen entgegen blicken.
Dies hier ist die Geschichte eines kleinen Mädchens mit dem *Wunsch* normal zu sein. Eine Geschichte über ihr *Leid* es niemals zu werden und die *Akzeptanz* einer jungen Frau, dass es auch gar nicht sein muss. Es ist meine Geschichte und ich bin froh, sie erzählen zu können. Ihr wisst nicht, was eine Lippen-Kiefern-Gaumenspalte ist? Eigentlich ist das vollkommen egal. Aber fragt die nächste Person mit einem Makel im Gesicht, am Bein oder am Rücken mit einem Lächeln, was sie dort hat - anstatt zu starren oder zu lachen.