Es war ihr Geburtstag. Eigentlich ein Tag, den sie genießen sollte, genießen in vollen Zügen. Aber es wollte ihr nicht so recht gefallen. Sie wusste, wenn sie in die Küche kam, dann würde da ein Kuchen auf sie warten. Mit Kerzen, 16 Stück würden es dieses Jahr sein. Mit Schokoladenglasur, mit jeder Menge Butter und Zucker und Milch mit vollem Fettgehalt. Und ihrer Mutter, die sie anlächeln würde und erwarten würde, dass sie die Kerzen ausblies und ein Stück Kuchen probierte. Aber sie wollte nicht. Sie liebte Kuchen, oder nein, sie hatte Kuchen geliebt. Damals, als sie noch ein Pummelchen war. Aber jetzt... Sie probierte im Kopf auszurechnen, wie viele Kalorien wohl in einem klitzekleinen Kuchenstück waren. Aber schon bei dem Gedanken wurde ihr übel. Sie stand auf und zog sich an. Sah sich im Spiegel an. Sie war immer noch zu fett. Sie legte die Hand auf ihren Bauch und drehte sich vor dem Spiegel zur Seite. Natürlich, der Bauch stand nicht so weit hervor wie ihre Rippen aber trotzdem.... sie fuhr mit einer Bürste durch ihre Haare und erschrak wie immer etwas darüber, wie viele ihrer Haare in der Bürste hängen blieben. Sie fielen ihr in letzter Zeit aus, waren schon dünn geworden und sie trug meist eine Mütze oder ein buntes Tuch auf dem Kopf um es zu verbergen. Sie ging hinunter in die Küche, wo sie von exakt der Szene empfangen wurde, die sie sich ausgemalt hatte. Sie lächelte, bedankte sich artig, blies die Kerzen aus und nahm tapfer ein Stück Kuchen entgegen. Sie steckte sich die erste Gabel voll in den Mund. Dann die zweite. Sie wollte das nicht. Es war ekelig. Abartig war es, jawohl, abartig. Als sie das Stück hinuntergewürgt hatte, sagte sie, sie sei satt, und würde jetzt ihre Sachen packen um sich mit ihren Freunden zu treffen. Ihre Mutter lächelte sie an, aber ihr entgingen die leichten Sorgenfalten um die Augen herum nicht. Sie hastete nach oben, ins Badezimmer und fiel vor der Toilette auf die Knie. Sie öffnete den Mund und steckte ihren Mittelfinger in den Hals. Tiefer, bis sie die Stelle erreicht hatte, an der sie den Finger leicht krümmte. Ihr Körper krümmte sich zusammen, als sie den Kuchen wieder hervorwürgte. Sie schwitze am gesamten Körper. Kalter Schweiß. Sie spülte, öffnete das Fenster, wusch sich die Hände, gurgelte, putzte sich die Zähne. Dann schnappte sie sich ihre Tasche und machte sich auf den Weg zu ihren Freunden, die schon in dem kleinen Café warteten.
Sie war seit Monaten nicht mehr in dem kleinen Café gewesen. Auf dem Weg überlegte sie verzweifelt, was sie bestellen konnte, das möglichst wenig Kalorien hatte. Ihre Freunde waren schon alle da, fingen an „Happy Birthday“ zu singen, sobald sie sie sahen. Lachten. Umarmten sie. Zeigten auf den riesigen Kuchen, auf das hohe Latteglas, das auf ihrem Platz auf sie wartete, gleich neben einem großen Geschenk. Sie lachte gezwungen und packte das Paket aus. Es war ein T-Shirt. Mit aufgedruckten Photos von ihr und ihren Freunden. Mit Sprüchen und Glückwünschen, mit Stoffmalstiften darauf gekritzelt. Sie bedankte sich. „Das ist super, hey, danke!“ Strahlende Gesichter „Probier's an!“ „Was?“ Sie trug kaum mehr T-shirts, immer nur schlabberige Sweatshirts, in denen man nicht sah, dass sie abgenommen hatte, jedenfalls ein bisschen. „Ja, probier's an!“ Sie wurde auf die Tür der Damentoilette zugeschoben. Als sie sich dort eingeschlossen hatte, fing sie an zu weinen. „Scheiße“, flüsterte sie, „Oh Gott, was mach ich nur?“ Sie schlüpfte aus ihrem Sweatshirt und in das T-shirt und ging wieder hinaus. Ihre Freunde starrten sie an. „Oh mein Gott“, sagte eine von ihnen. „Verdammte scheiße“, fügte jemand anderes an. „Was?“, fragte sie irritiert, nicht verstehend, wieso alle ihre Freunde aussahen, als ob sie ein Geist sei. „Du siehst aus wie ein Skelett.“
Sie sah hinunter auf ihre Handgelenke, dann auf das Messer in ihrer Hand. In ihrem Kopf hallten die besorgten Rufe ihrer Freunde nach, als sie aus dem Café gerannt war. Ihre Mutter, die sie mit diesen Sorgenfalten ansah. So konnte es nicht weiter gehen. Aber Selbstmord? Sie sah auf ihre knochigen Handgelenke und fing an zu weinen. Sie umschlang ihre Beine mit den Armen und weinte und wippte leicht vor und zurück. So fand ihre Mutter sie eine Stunde später. Sie leistete keinen Widerstand, als ihre Mutter sie in das Auto trug und zum Krankenhaus fuhr. Sie leistete keinen Widerstand, als man sie an den Tropf anschloss. Als man ihr sagte, sie sei magersüchtig, widersprach sie nicht. Der einzige Moment in dem widersprach und sich wehrte war, als man ihr das T-shirt aus zu ziehen versuchte. Sie starrte auf ihr eigenes lachendes Gesicht auf dem Stoff und fing an zu weinen. Sie würde es hinkriegen. Irgendwann. Irgendwann würde sie wieder so lachen können.