Ich stand vor dem Spiegel und blickte in mein eigenes Spiegelbild, musterte mein Gesicht, meine hohen Wangenknochen, meine grünen Augen – meine Mutter nannte sie Smaragde – meine kleine Stupsnase, die vollen geschwungenen Lippen. Ja, ich war hübsch, fand ich. Und das fanden auch alle anderen. Aber trotzdem gefiel ich mir irgendwie nicht. Es war, als wäre das nicht ich, die da vor dem Spiegel stand. Als wäre das nicht ich, die sich die Haare aus der Stirn strich. Als wäre das nicht ich, die da in meinem Körper steckte. Meine Mutter rief von unten. Es wurde Zeit. Zeit für das Rampenlicht, Zeit für das Fotoshooting, Zeit, die zu werden, die ich nicht war. Die, die ich nie sein wollte.
Und doch tat ich es jetzt. Rannte von einem Termin zum nächsten, ließ mich fotografieren, wildfremde Menschen an mir rumzuppeln, mich korrigieren. Tat, was sie wollten. Spielte deren Spiel mit. Mit der Zeit haben sich mich geformt, mich geknetet, modelliert, so wie sie mich haben wollten. Zu einem anderen Menschen gemacht. Sie haben mir die Maske der Schönheit gegeben, sie mir aufgesetzt, um mein wirkliches Gesicht dahinter zu verbergen. Mein wahres Ich, die, die ich wirklich war. Würde ich je wieder lächeln können? Ein wahres, ehrliches Lächeln? Die Maske, die sie mir aufgesetzt haben, schmerzte zu sehr auf meinen Zügen.
Ich wollte nie so werden, im Rampenlicht stehen, von anderen begafft werden. Doch dann war ich von meinem heutigen Agenten angesprochen worden und von da an hatte sich alles in meinem Leben verändert. Von einem Tag auf den anderen wollten die Leute mich dabei haben, sich mit mir treffen, luden mich auf ihre coolen Partys ein. Von einem Tag auf den anderen bekam ich das, wovon ich als Kind immer geträumt hatte. Von einem Tag auf den anderen wurde ich beliebt. Beliebt, weil ich schön war. Schön. Schön und beliebt. Und das war das Wichtigste. Aber es war nicht das, worauf es im Leben wirklich ankam, es war nicht das, was ich mir in meinem Herzen tatsächlich gewünscht hatte. Und das begriff ich erst jetzt, Jahre später, als ich vor dem Spiegel stand und in mein eigenes Spiegelbild blickte.
Ich wollte nie besonders hübsch sein, im Rampenlicht stehen, mit den coolen Leuten ausgehen. Denn das war nicht mein Leben. Und das sollte es auch nie sein. Es war mir nicht wichtig. Und das war es auch noch nie gewesen. Ich wollte bloß wirkliche, wahre Freunde haben, mit den Leuten Partys schmeißen, die mich so nahmen, wie ich war. Für mich zählten nur die inneren Werte. Die innere Schönheit. Aber all das hatte ich vergessen, war nicht mehr wichtig für mich. Ich hatte mich verändert, äußerlich und innerlich. Das war nicht ich.
Ich erinnerte mich an die Worte meines besten Freundes. Als ich ihm davon erzählte, dass ich nun Model werden würde, hatte er gesagt: „Bist du dir auch sicher, dass du das wirklich willst? Ist es das, worauf du jahrelang hingearbeitet hast? Um Model zu werden? Um im Rampenlicht zu stehen? Beliebt zu sein? Bist das wirklich noch du?“ Darauf hatte ich genickt und gestrahlt. Aber er hatte mich nur angesehen. Mit ganz traurigen Augen, und er hatte etwas gemurmelt, das klang wie: „Schade, ich habe gedacht, (ich kenne dich, aber da habe ich mich wohl geirrt.)“ Dann hatte er sich umgedreht und war verschwunden und ich hatte ihn als Freund verloren und war alleine stehen geblieben. In dem Moment hatte ich nicht begriffen, was er meinte, nicht verstanden, was er mir mit diesen Worten sagen wollte, aber plötzliche wurde mir alles klar. Auf einmal verstand ich, was er meinte.
War das Modeln wirklich das, was ich immer gewollt hatte? Das, worauf ich immer hingearbeitet hatte, das, wofür ich brannte und lebte? War das wirklich ich, die da vor dem Spiegel stand? Ich schaute mir noch einmal in die Augen, die plötzlich so blass und farblos wirkten, fuhr über meine Wangenknochen, die auf einmal eingefallen aussahen, zeichnete meine Lippen nach, die sich zu einem krampfhaften Lächeln verzogen hatten. Ich ließ meine Mundwinkel fallen. War das wirklich ich? Ich sah so krank aus, und so fühlte ich mich auch. So falsch. So kraftlos.
Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass es nicht das Modeln war, worauf ich immer hingearbeitet hatte, nicht das Beliebtsein, was ich immer gewollt hatte, es war auch nicht die Mode an sich, wofür ich brannte. Es waren meine Freunde, für die ich mit Herz und Seele lebte, meine Familie, das Schreiben, meine Fantasie, die Musik. Mein bester Freund. Endlich verstand ich, was er mir hatte sagen wollen. Dass er mir sagen wollte, wer ich wirklich war. Dass er mir sagen wollte, dass ich so richtig war, wie ich gewesen bin. Dass ich mich nicht verstellen musste.
Jetzt wusste ich, was ich zu tun hatte. Nun begriff ich, dass ich es wieder gutmachen musste. Dass ich meinen Fehler wieder ausradieren, ihn wegwischen musste. Dass ich ihm sagen musste, dass ich ihn endlich verstand und dass er mir das Leben gerettet hatte. Denn das hatte er wirklich. Ohne ihn wäre ich verloren gewesen. Hätte als ein blasser Mensch geendet, der ohne wahres Gesicht durch die Welt irrte. Als ein Mensch, der hinter einer Maske seine wirkliche Gestalt und seine Tränen versteckte. Davor hatte er mich bewahrt. Ich fasste einen Entschluss. Das war nicht mein Leben. Das war nicht ich, die da vor dem Spiegel stand. Ich beschloss, nicht länger Model zu sein, für die anderen lächerlich zu posieren, mir nicht mehr die Maske der Schönheit aufzusetzen, sondern das zu tun, was ich wirklich wollte.
Denn das war, wofür ich wirklich brannte, mein Herz, meine innere Schönheit und die der anderen.
Ich wollte nicht länger die sein, die ich nicht war. Die, die ich nie hatte werden wollen. Ich wollte nicht mehr so krank sein, so falsch, so kraftlos, so leer. Ich wollte weg von hier, ich wollte laufen, rennen, tun, was ich wollte und was ich für richtig hielt.
Leben.