Ihr BMI: 17,6 – bedeutet Untergewicht. Bitte suchen Sie umgehend einen Arzt auf.
Nun ja, sagt die Hausärztin, an Ihnen ist ja nichts dran, kein Wunder, dass sie ständig Muskelschmerzen haben. Ich schreibe Ihnen Magnesium- und Kaliumtabletten auf. Untergewichtig ja, sagt der befreundete Kinderarzt, unterernährt nein. Sie müssen mehr essen, sagt einer der Klienten in dem Sozialen Beratungszentrum, in dem ich arbeite. Sonst werden sie noch anorektisch. Hier, essen Sie diese Mandeln.
Ich bin nicht magersüchtig. Ich bin es nicht. Ich habe keine hervorstehenden Knochen, keine tief in den Höhlen gierenden Augen, keine Hände wie Skelette. Ich esse, wenn ich hungrig bin. Ich hasse das Gefühl, Hunger zu haben. Und ich bin süchtig nach Schokolade. In ebendiesem Moment sitze ich auf dem Bett und krümele es mit Keksen voll.
Du kannst echt alles tragen, sagt meine Freundin neidisch.
Hey, magst du mein blaues Kleid haben, fragt meine Schwester. Mir ist es zu klein, aber dir passt es sicher noch. Ich liebe dieses blaue Kleid, und stolz schnüre ich es so eng wie möglich.
Die Treppe ist ziemlich lang. Meine Beine fangen an, wehzutun, ehe ich oben bin. Meine dummen Hüftbeugemuskeln sind schon wieder verspannt. Ich fahre mit dem Finger den Muskel entlang, aber es hilft nicht viel. Sie bleiben verkrampft und ziehen, wie verspannte Schultern. Und wer hat je von einer Hüftmassage gehört?
Was Kochen angeht, bin ich nicht sehr kreativ. Nudeln mit Tomatensoße, Reis mit Gemüse, Kartoffeln mit Käse. Die Tomaten werden mit extra viel Olivenöl angedünstet, das Gemüse in dreißigprozentiger Sahne ertränkt, der Käse ist der fetteste, den ich finden konnte. Ich esse Eiersalat mit Mayonnaise und beinahe jeden Tag eine halbe Tafel Schokolade. Nichts bleibt hängen.
Eine Stoffwechselkrankheit haben Sie nicht, sagt die Ärztin, die Blutwerte sind normal. Sie müssen einfach mehr essen. Heute gibt es Maultaschen, sagt Mama, als ich über Weihnachten nach Hause komme, für Kathi extra angebraten.
Manchmal bleibe ich zu lange auf. Wenn ich um halb acht abendesse, bekomme ich um Mitternacht meist wieder Hunger. Ich liege im Bett, muss morgen früh aufstehen. Schlaf einfach ein, dann spürst du´s nicht mehr, versuche ich mich so lange zu überzeugen, bis mir vor Hunger schlecht wird. Dann stehe ich auf und verschlinge eine Scheibe Brot. Die Butter dauert zu lange, bis sie weich wird. Außerdem, denkt ein winziger, ungebetener Teil von mir, willst du ja nicht zunehmen.
Der Bus kommt erst in zwanzig Minuten, und irgendwie hatte ich heute auf der Arbeit keine Zeit, genug zu essen. Die Bäckerei hat noch offen, und der Schnellimbiss. Apfelkuchen ist im Angebot, und ich hätte unglaubliche Lust auf Pommes Frites. Nein, sagt die Stimme in meinem Kopf, spar das Geld lieber, zuhause hast du noch Brot. Mein Magen röhrt und langsam wird mir übel. Außerdem ist das total ungesund, und du willst ja nicht zunehmen. Ich kaufe keine Pommes Frites, und wahrscheinlich auch keinen Kuchen.
Ich will zunehmen. Ich will eine Treppe ersteigen können, ohne danach Dehnübungen machen zu müssen. Ich würde gerne Skinny Jeans tragen können, ohne dass meine Beine darin aussehen wie Streichhölzer. Ich würde gern länger als acht Stunden im Bett liegen, ohne dass mein Rücken anfängt, wehzutun, weil er Mineralstoffe und Bewegung braucht.
Aber ich liebe es, das blaue Kleid schnüren zu können wie in alten Tagen ein Korsett. Ich liebe den Anblick meiner Schlüsselbeine im Spiegel, meiner Beckenknochen, meiner Taille, ich liebe es, dem Schönheitsideal meiner Generation zu entsprechen. Ohne dafür etwas tun zu müssen.
Es ist nicht leicht, als Einzige im Supermarkt die Vollmilch zu nehmen. Es ist nicht leicht, fetten Quark auf meinen Pfannkuchen zu streichen, während meine Mitbewohnerin eine Obstdiät macht. Es ist nicht leicht, täglich an Werbung vorbeizugehen, die einen überreden will, eine Abspeckkur zu machen. Es ist nicht leicht, die anderen Frauen sagen zu hören, dass Fisch zu dünsten viel gesünder is, als ihn zu braten, oder die Vegetarier, dass Fleisch ungesund ist. Unsere Gesellschaft ist zu fett, sagt das Gesundheitsministerium. Die meisten Jugendlichen essen viel zu viel.
Es ist nicht leicht, sich davon nicht überzeugen zu lassen.
Es ist nicht leicht, in einer Welt untergewichtig zu sein, in der alle es sein wollen.