Mein Magen heult plötzlich auf, als ich mich mit meinen Mädels mittags in der Kantine niederlasse. Der Grund für diesen plötzlichen Gefühlsausbruch: Marlene hatte sich einen kleinen, festen und unglaublich schokoladigen Pudding gekauft, dessen bloße Anwesenheit meinen Magen zu einer Revolte bringt und mir mehr als deutlich macht, was genau er will. Ich beiße mir vorne auf die Zungenspitze und drehe den Kopf weg. Es ist eine Ewigkeit her, seit ich das letzte Mal Schokoladenpudding gegessen habe und allein der Anblick reicht, mich in Versuchung zu führen. Ich stelle mir vor, wie ich mir einen Löffel dieser himmlischen Creme in den Mund schiebe. Der Pudding verteilt sich im gesamten Mundraum, angenehm kühl auf der Zunge. Ein dunkler Schokoladengeschmack breitet sich aus, zieht bis in die Nase. Genussvoll schließe ich die Augen. Mein Magen knurrt erneut vorwurfvoll auf und reißt mich aus meinen kalorienlastigen Tagträumen. Schnell verschiebe ich den Gedanken an diese wunderbare Nachspeise. Ich kann mir das jetzt gerade echt nicht leisten. Erst gestern habe ich eine Speckfalte an meinen Bauch entdeckt. Sie war zwar nur klein, aber immerhin. Und auch meine Oberschenkel berühren sich immer noch, wenn ich stehe. Abartig. Der bloße Gedanken ekelt mich an. Ich schüttel mich innerlich und beiße in meinen Apfel.
Seit knapp einem halben Jahr bin ich schon am abnehmen. Und eigentlich hatte ich auch schon mein Traumgewicht erreicht. Aber irgendwie findet man ja immer noch etwas zum Verbessern. Und weil es so gut geklappt hat, lege ich jetzt noch ein paar Kilo drauf. Kann ja nicht schaden. Und überhaupt, gestern hat Adrian mir erst gesagt, wie hübsch ich in dem neuen Oberteil aussehe. Das Oberteil war zwar noch in Größe 36/38, wie wird er also erst staunen, wenn ich wieder in 36 passe? Und dann ist da auch noch die schwarze Jeans im hintersten Fach im Kleiderschrank, in die ich unbedingt zu Ninas Party passen muss? Die würde gut zu der weißen Bluse passen, die es in meiner Lieblingsboutique nur noch in 36 gibt. Vor lauter Pläneschmieden habe ich vollkommen Marlenes Frage überhört, die mir aufforderungsvoll ihren Schokoladenpudding hinhält: "Lena, ich habe gefragt, möchtest du davon? Ich weiß doch, wie sehr du ihn magst!“ Ich scanne die dunkle Schokoladenmasse: Bestimmt 200 kcal pro Teelöffel, wahrscheinlich mehr, wegen der Vollfettmilch. Das hieße eine halbe Stunde mehr Bauch-Beine-Po-Workout.
Seit dem Anfang meines Abnehmens habe ich gelernt, die Kalorienzahl der Gerichte in Sekundenschnelle schätzen und in Sport-Einheiten ausrechnen zu können. ,,Nein, danke!“ antworte ich schnell und widme mich meiner Apfelkitsche. Marlene zuckt mit den Schultern und isst weiter. Allein bei ihrem essenden Anblick wird mir schlecht. Wie sie schmatzt und kaut, so viele Kalorien auf einmal, das ganze Fett, das sich in ihrem Körper verbreitet und sich dann zum Beispiel am Po ansammelt. Angewidert stehe ich schnell auf und verdrücke mich auf die Damentoilette. Ich blocke die Tür mit meinem Rucksack und unterziehe mich einer kritischen Überprüfung. Ich stelle mich seitlich hin, schiebe das T-Shirt hoch: Hat sich die kleine Speckfalte vergrößert? Zu meinem Entsetzen stelle ich fest, dass das T-Shirt nicht wie gewohnt fällt, sondern über meinen Hüften spannt. Panisch messe ich meine Taillenumfang mit den Händen. Tatsächlich, ich habe da zugelegt. Voller Verachtung starre ich mich im Spiegel an: "Lena Feilmann, wie blöd kann man sein? Das hast du davon, dass du gestern unbedingt noch die Mandarine essen musstest!" Ich funkel mich selber böse an.
Entschlossen hole ich meine zwei Mandarinen aus der Schultasche und schmeiße sie in den Mülleimer. So ist das eben, wer nicht hören will, muss fühlen. Und wenn ich so zugelegt habe, muss ich ja wohl heute bis auf den Salat am Abend verzichten. Und vielleicht sogar auf den! Mein Magen knurrt, es ist, als jaule er auf: Seit Wochen bekommt er nichts als Obst, Salat und Babybrei. Und ein Glas Milch morgens. 0,1% Fettgehalt. Aber so ist das eben. "Wer schön sein will, muss leiden!" sage ich laut zu mir und probiere, mich dadurch zu motivieren. "Lena, du bist immer noch fett und unglaublich hässlich, wenn du jetzt aufhörst, gehst du auf wie ein Hefekuchen. Willst du etwa so werden wie Marlene, die sich wahllos Kalorienbomben in den Mund schiebt?" Ich nicke mich aufmunterungsvoll an.
Gedämpfte Geräusche reißen mich aus meiner Trance, meine Mädels stehen vor der Toilette und warten auf mich. Ich nehme meine Sachen und quetsche mich zu ihnen nach draußen. "Alles in Ordnung?" fragt mich Friedericke, "Du kommst nach Mathe auch noch in die Stadt, oder? Ich suche noch ein T-Shirt für Markus Party am Samstag." Ich schüttel den Kopf. "Sorry, Ladies, ich gehe noch in die Muckibude, da ist heute erst Bauch-Beine-Po, und dann Fatburning." Dass ich danach noch in die Zumba-Stunde gehen will, verschweige ich wohlweislich. "Lena, findest du das nicht ein bisschen übertrieben? Wir waren seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr zusammen unterwegs. Du bist nur noch im Schwimmbad oder in der Muckibude, ständig knurrt dein Magen, und du ernährst dich wie ein Karnickel von lauter Grünzeugs."
Marlene starrt mir prüfend in die Augen und auch die Anderen mustern mich. Ich spüre, wie ihre Blicke über meinen mühsam gestählten Körper fahren, über die kantigen Hüftknochen, das herausragende Schlüsselbein, die immer noch viel zu fetten Oberschenkel. Ich verschränke die Arme vor der Brust: "Seid ihr etwa neidisch? Ihr wisst genau, wie viel mir das bedeutet, abgenommen zu haben, und wie viel ich damals zu viel gewogen habe, wie mühsam das war. Ich bin halt noch nicht… ganz zufrieden. Wenn ich mein Wunschgewicht erreicht habe, höre ich auf. Ich bin ja nicht krank." "Und welches Wunschgewicht wäre das?" "Ich…, Lena, du weißt es nicht. Du hast bereits die Kontrolle verloren." "Das stimmt doch gar nicht!" schreie ich fast. "Dann beweis es uns und iss den Schokoladenpudding auf!" Sie hält mir den Becher hin, "Wenn du ihn isst, ist alles in Ordnung, wenn nicht…" Ich starre die braune Schokoladenmasse an. Und alles verschwimmt vor meinen Augen.