Stille.
Sie hat Aaron noch nie leiden können. Es fehlen die Geräusche um ihn herum; das Piepen, das Surren, das Klingeln...nichts. Kein Ton, der ihn davon ablenkt, dass er allein auf dieser Welt und genauso einsam wie alle Menschen ist.
Den Großteil seiner siebzehn Jahre hat Aaron fest daran geglaubt, dass ihn etwas von den Anderen unterscheidet. Er, der Kämpfer, führte seine Geräte wie Schwert und Schild mit sich. Sah sich auch fast als Cyborg mit seinem Smartphone, seinem Pad, dem PC. Eine digitale Rüstung, eins-a-poliert und immer auf dem neuesten Stand. Die Geräte veränderten nicht nur die Realität um ihn herum, sie machten sie auch irgenwie besser, besser zu ertragen jedenfalls.
Das war alles eine Illusion.
Wenn Aaron zurückdenkt, sieht er den Beginn des Experiments vor sich. Unsere digitale Welt – was macht sie mit uns? lauteten die Worte, die Herr Abel an die Tafel schrieb.
Es handelte sich um ein praktisches Projekt, das benotet werden sollte. Die meisten Schüler spielten auf ihren Handys und passten nicht auf, als Herr Abel ihnen freien Spielraum für die Bearbeitung des Themas erlaubte, aber in Aaron rührte sich der Ehrgeiz. Die Aussicht auf eine gute Zensur ließ seine Hand nach oben schnellen.
Ich verzichte, hat er gesagt. Für einen Monat auf alles, was irgendwie mit der digitalen Welt zu tun hat.
Du sollst keine E-Mails lesen.
Du sollst nicht chatten.
Du sollst nicht telefonieren.
Abel hatte ihn stirnrunzelnd angesehen. So weit müsste Aaron nicht gehen. Wenn er den Selbstversuch tatsächlich durchziehen wollte, könnte er für eine Woche auf alle Apparate verzichten, einen Tag vielleicht. Er hatte Aaron entgegenkommen wollen. Doch der war stur geblieben. Ich schreibe ein Buch über meine Erlebnisse, hat er geprahlt. Ein Bestseller würde das natürlich werden.
Doch Aaron hat jetzt wenig Lust zu schreiben. Er war heute mit seinen Kumpels Fußball spielen, es hat Spaß gemacht, doch hinterher, beim DVD-Abend, durfte er nicht dabei sein. Er ist isoliert.
Nun ist er tatsächlich einzigartig. Aber das ist ein weniger triumphales Gefühl, als er sich vorgestellt hat.
Abels Frage müsste wohl anders gestellt werden, dämmert es ihm. Es muss nicht heißen, was macht die digitale Welt mit uns.
Es müsste heißen: Was machen wir ohne sie?
ConnectT-Cut ist ein soziales Netzwerk, das jeder an Aarons Schule nutzt. Vor ein paar Wochen hat er seinen Account auf Eis gelegt.
Sein Freund Elias hat ihn angeschaut, als wäre Aaron nicht mehr ganz dicht.
War das so eine Art Märtyrer-Ding? Wollte er unbedingt alternativ sein?
Aaron hat die Zähne zusammengebissen und den Kopf geschüttelt. Er hat etwas Intelligentes erwidern wollen, so wie Ich find's eben bescheuert, dass uns die Technik so im Griff hat. Wir nutzen sie ja ständig, als hätten wir keine andere Wahl.
Er, seine Mitschüler, die Stadt, ja die ganze Welt war weit davon entfernt, einen bewussten Umgang mit den Geräten zu finden. Sie waren entwickelt und auf den Markt gebracht worden, bevor sich jemand ernsthaft Gedanken darüber gemacht hatte, was sie den Menschen für Möglichkeiten eröffneten. Unbegrenzte nämlich. Unfassbare.
Die Technik ist aber zugleich ein Wunder. Dank des Internets, des Fernsehens und Co kann man in andere Dimensionen flüchten. Und darin funktioniert alles so, wie man es gern hat. Ein iPod widerspricht Dir nicht. Ein PC streitet nicht mit Dir. Geräte sind vielleicht die besseren Menschen, könnte man sagen.
So denkend, hat Aaron in die Leere gestarrt, vorbei an Elias, der nur den Kopf schüttelte.
Natürlich ist Aarons Umfeld ihm irgendwann sauer geworden. Du meldest dich ja nie mehr! Lebst du noch? Allein seine Entschlossenheit lässt ihn weiter am Experiment festhalten.
Doch die Stille nervt. Und die Langeweile. Und das ihn keiner liked. Mittlerweile lernt Aaron, sich auf andere Weise zu beschäftigen. Er geht oft spazieren und ist nachdenklicher als noch vor zwei Wochen.
Neulich hat er einer alten Dame dabei geholfen, ihre Einkäufe nach Hause zu bringen, einfach so. Er ist ihr bei einer seiner ziellosen Wanderungen begegnet und hat gesehen, dass sie Hilfe mit den schweren Tüten benötigte. Früher hätte er sie wahrscheinlich gar nicht bemerkt, weil er Musik gehört oder seinen ConnectT-Cut-Status aktualisiert hätte.
Die Dame ist Aaron sehr dankbar gewesen.
Normalerweise hätte ich meinem Sohn gesimst, hat sie gestrahlt.
In der Vergangenheit, vor mehr als drei Wochen, war Aaron ständig online. Es war für ihn normal, wie für seine Kumpel, Elias und die Dame. Jetzt, in der Gegenwart, fühlt er noch immer eine seltsame Leere. Es scheint, als rase das Leben an ihm vorbei. Aaron rennt ihm hinterher, kann es aber nicht einholen.
Seine Freunde vernachlässigen ihn mittlerweile ein wenig, er kann ja nirgendwo mitreden. Seine Eltern machen sich Sorgen. Aaron beißt die Zähne fester zusammen, doch allmählich zerrt der Selbstversuch an seinen Nerven. Wo ist bitte die Lebensqualität, wenn er keine Geräte benutzen darf, um cool zu sein, um dazu zu gehören? Digitale Dienste wie ConnectT-Cut speichern die Daten, na schön, aber das ist eben der Preis, den man zahlen muss. Als moderner Mensch ist man heutzutage auf die Geräte angewiesen; auf Dauer geht es nicht ohne sie.
Nach vier Wochen hält Aaron Rücksprache mit Herrn Abel. Der schenkt ihm ein ermunterndes Lächeln. Aaron hat durchgehalten und einen Erfahrungsbericht geschrieben, der mit einer Eins benotet wurde.
Abel beobachtet Aaron, als dieser zum ersten Mal wieder sein Smartphone in die Hand nimmt. Endlich wieder Piepen und Surren! Willkommen zurück in der digitalen Welt!
Hast Du es vermisst?, will Abel wissen.
Aaron schüttelt den Kopf, dann nickt er. Abel lächelt.
Ich glaube, ich brauche es, meint Aaron zögerlich.
Dein Projektbericht ist sehr anschaulich geschrieben, sagt Abel. Er steckt voller kluger Gedanken. Aber eine Frage interessiert mich sehr: Was würdest Du Leuten raten, die tatsächlich aus der digitalen Welt 'aussteigen' wollen? Meinst Du, dass es möglich ist?
Bestimmt, entgegnet Aaron. Aber ich glaube nicht, dass es viel nützt. Wir stecken zu sehr drin.