Ich sitze vor meinem Computer, der Browser ist offen, auf einem Reiter sieht man den kleinen blauen Vogel von Twitter, auf dem anderen das blaue Quadrat mit dem F drin. Ich wechsle hin und her, twittere mit den einen, klicke „gefällt mir“ bei den anderen, überlege mir sinnige Sprüche, stelle Lieder ins Netz, damit sie jemandem gefallen mögen, ich wahrgenommen werde im ganzen Wirrwar der Gleiches tuenden Menschen vor ihren Bildschirmen. Vor mir ziehen Timelines durch, vieles übersehe ich, was bei einerseits über 1000 Freunden, andererseits bei über 600 Verfolgten nicht ausbleibt. Wie muss es erst denen gehen, die ein Vielfaches von meinen Kontakten haben? Und was bedeuten diese Kontakte überhaupt? Habe ich so viele Freunde? Verfolge ich so viele Menschen? Schliesslich und endlich nehme ich nur einen Bruchteil von allem wahr, mit den wenigstens komme ich in einen wirklichen Diskurs.
Andere haben 100e von Reaktionen auf ihre Beiträge, bei mir befindet sich die Zahl meist im einstelligen Bereich und ab und an nicht mal das. Was sagt das über mich aus? Bin ich uninteressant? Unbeliebt? Kein sozialer Mensch? Im sogenannt realen Leben habe ich auch wenig Freunde, da stört es mich nicht, da meine Zeit für mehr nicht reichen würde. Meine Geduld schon gar nicht. Ich mag es nicht, ständig Menschen um mich zu haben, bin gerne zu Hause und für mich. Dass ich dann am Computer sitze und mit Menschen in der weiten Welt in Kontakt zu treten versuche, hat dabei eine etwas skurrile Note.
Ich könnte mal ein Bild von meinem Computer auf Instagram stellen, geht es mir durch den Kopf. Damit man auch noch mit Bild sieht, was ich gerade mache. Nicht dass es speziell wichtig und interessant wäre, aber man stellt sich ja dar. Leben im Jahr 2014. Immer öffentlich, immer präsent. Kaum jemand, der sich diesen Medien entzieht. Böse Zungen behaupten, die Menschheit verarme, da sie nur noch zu Hause sitzt und kein reales Leben mehr hat. Ich bezweifle das. Ich habe über Twitter und Facebook einige tolle Menschen kennengelernt, die ich nun auch im realen Leben treffe. Wir gehen Kaffee trinken, plaudern, wandern, ins Kino, zum Essen. Natürlich bleibt es nicht aus, dass das Ganze über Twitter, Facebook und Instagram verbreitet wird, schliesslich ist man sich und den anderen das schuldig und endlich hat man über diese Kanäle überhaupt zu diesem Vergnügen gefunden. Wenn man sich dann im realen Leben trennt, schickt man via SMS – oder gleich über die öffentlichen Kanäle – noch ein Dankeschön hinterher, soviel muss sein.
Es fällt leichter, übers Internet zu sagen, was man denkt. Man ist anonymer, freier, kann sich hinter den Tasten und Bildschirmen verstecken. War man zu frech, kann man es als Missverständnis auf die Schriftlichkeit schieben, war man zu böse, kreiert man einen ebensolchen Charakter und bildet sich als Kunstprodukt, war man zu romantisch, lief man ins Messer, verlor man gar sein Gesicht, so war es immerhin nur das des Avatars, nicht zwingend das wirkliche. Man rettet sich dann in den Gedanken, dass einen da aussen eh kaum einer kennt, es also egal ist. Eigentlich. Trotzdem brodelt es im Innern. Genauso wie die mangelnden „gefällt mir“-Klicks und Favorisierungen.
Sind wir wirklich den technischen Errungenschaften ausgeliefert? Kinder des Social Media, die sich im wahren Leben kaum mehr zu bewegen wissen, wenn sie nicht in ein Gerät starren, sich nicht der grossen Öffentlichkeit darbieten können? Was treibt uns an? Das Gefühl, unscheinbar, zu klein zu sein, so dass wir mehr Aufmerksamkeit suchen? Das quasi anerkannte und akzeptierte ADHS der Erwachsenengeneration? Wenn dies geschrieben ist, wird es auf Wordpress, Facebook und Twitter erscheinen, wird verbreitet werden und eventuell sogar gelesen. Wird man es mögen? Wird es gefallen? Wird jemand was dazu schreiben? Wozu schrieb ich es? Wieso? Weil ich es nicht anders kann? Ein Zwang? Das Streben nach Output, der beim Schreiben am grösseren Text oder gar Buch zu wenig schnell kommt, so dass ich mich in kleinen Texten ergiesse, die sofortige Reaktionen bringen, nicht erst Jahre des Schaffens bedingen, um irgendwann vielleicht genauso wenig gelesen zu werden? Twitter und Facebook also nur Ablenkungsmanöver von den grossen Dingen des Lebens, an die wir uns kaum ran wagen oder aber ab und an an ihnen verzweifeln?
Schliesslich und endlich ist Social Media das, was wir draus machen. Der Sog, den es entwickeln kann, nimmt mitunter suchtähnliche Züge an, man taucht ein in eine Welt, fühlt sich bald getrieben, immer auf dem neusten Stand sein zu müssen, da das Leben im Netz, in der eigenen Timeline, an einem vorbeirauscht, wenn man nicht hinschaut und man so etwas verpassen könnte. Es ist wie im Kindesalter, wenn man nicht ins Bett wollte, weil man dachte, all die spannenden Dinge im Leben passieren dann, wenn man nicht dabei ist. So zögerte man das ins Bett Gehen hinaus und hinaus. Genauso scrollt man sich in allen Lebenslagen durch die verschiedenen Timelines, schaut, wo wer was schrieb, antwortet kurz, egal, ob man gerade auf dem Klo oder beim Mittagessen mit Freunden sitzt. So viel Zeit muss sein, schliesslich spielt da das wahre Leben – zumindest ein Teil davon. Und es ist wahres Leben, auch wenn es virtuell ist. Wenigstens zum Teil.
Nun kann man diesen Teil – und das wird oft getan – mit moralischen und anderen Massstäben bewerten, sich darüber auslassen und alles verdammen. Schliesslich und endlich hat jedoch jede Generation ihre von der letzten Generation mit hochgezogener Augenbraue wahrgenommenen Auswüchse. Dies ist unserer, der nächste wird kommen. Wir werden dann immer noch in altangestammten Timelines scrollen, über die wiederum unsere Nachgeboren die Nase rümpfen ob ihrer Antiquiertheit, während diese schon viel weiter sind. Man darf gespannt sein.