Vor ein paar Wochen hatte sie angefangen zu studieren und jetzt fragte sie sich schon wieder, was sie hier in diesem fensterlosen Hörsaal eigentlich machte. Sie wusste noch immer nicht, was sie wirklich studieren wollte. Dieser Studiengang war ihr einfach irgendwie in die Hand gefallen und da sie nun schon einmal hier war, versuchte sie eben, sich auf den Dozenten zu konzentrieren.
Seit Beginn der Vorlesung war schon eine halbe Stunde vergangen und sie hatte noch nicht einmal mitbekommen, um welches Thema es ging. Ihre Aufmerksamkeit wanderte immer wieder zu anderen Dingen. Zu dem Gespräch zweier Kommilitonen hinter ihr, die sich über den heutigen Mensaspeiseplan unterhielten, der neuerdings über eine App abrufbar war. Zu dem Spiel, das eine Studentin eine Reihe weiter vorne auf ihrem Smartphone spielte. Zu den Facebook-Nachrichten auf dem Laptop ihres Sitznachbars, die immer wieder so unverschämt ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkten und in ihr dann das unangenehme Gefühl auslösten, in fremden Dingen herumzuschnüffeln, die sie eigentlich gar nichts angingen. Dabei waren es doch die Nachrichten, die sich ihr immer wieder aufdrängten. Sie lenkte ihren Blick auf die Sprüche, die Generationen von Studenten vor ihr auf die Klapptische geschrieben hatten, und fragte sich, ob sich in einem Zeitalter, in dem jeder ständig ein Smartphone zur Hand hatte, weniger Studenten auf den Tischen verewigten. Vielleicht hatten WhatsApp und co. doch auch etwas Gutes, weil sie die Einrichtungen von Schulen und Universitäten vor weiteren Schmierereien bewahrten. Wer wollte schon noch auf Holz schreiben, wenn man einen Touchscreen zur Verfügung hatte?
Während ihr Sitznachbar sich immer weiter in den virtuellen Welten des Internets verlor, packte sie irgendwann leise ihren noch immer leeren Block ein und verließ den Hörsaal auch körperlich.
Sie hastete durch den Gang und eine Treppe hinauf, bis sie endlich wieder Tageslicht erblickte.
Wenig später kam sie mit einer kalten Nase und roten Ohren in ihrem kleinen Studentenappartement an und machte sich erst einmal einen Kaffee. Die wärmende Tasse in der Hand, setzte sie sich an ihren Laptop. Ob das Internet ihr vielleicht eine Antwort auf die Frage geben konnte, was sie wirklich studieren wollte? Sie fragte Google „was soll ich studieren“ und klickte sich anfangs noch hoffnungsvoll, mit der Zeit aber immer mutloser durch die Tests, die die Suchmaschine ihr angezeigt hatte. Nirgends bekam sie andere Ergebnisse als ein paar Standardstudiengänge, von denen sie kein einziger interessierte.
Sie befragte Google noch einmal. Diesmal nach einer Liste aller Studiengänge. Vielleicht musste sie so eine Liste einfach einmal gründlich durchlesen. Irgendetwas musste dann doch dabei sein, was sie interessierte.
Tatsächlich fand sie mehrere solcher Listen. Die Anzahl der dort verzeichneten Studiengänge variierte zwischen sechs- und siebzehntausend.
Musste sie jetzt siebzehntausend Studiengänge durchforsten, um für sich den einen, richtigen zu finden?
Sie begann, sich die Liste etwas genauer anzusehen, und stellte fest, dass die große Zahl wohl auch dadurch zustande kam, dass ein und derselbe Studiengang an jeder Uni anders hieß und deshalb mehrfach angezeigt wurde. Aber trotzdem blieben es viele. Viele, von denen sie noch nie etwas gehört hatte. Studiengänge wie Motologie, Ethnomusikologie oder Markscheidewesen.
Sie war also noch immer nicht weiter.
Die letzten dreizehn Jahre war immer alles vorgegeben gewesen. In der Schule hatte sie sich höchstens zwischen einer Handvoll Fremdsprachen und der ein oder anderen Naturwissenschaft entscheiden müssen. Und plötzlich sollte man sich zwischen tausenden Studiengängen entscheiden.
Mit dieser Entscheidung war sie allein überfordert, aber vielleicht konnte der Zufall ihr helfen.
Sie begann damit, sich die Liste aller Studiengänge auszudrucken und die Blätter in kleine Streifen mit jeweils einem Studiengang darauf zu schneiden.
Während ihr Drucker noch mit Drucken und sie mit Schneiden beschäftigt waren, ging draußen bereits die Sonne unter. Drinnen saß sie in der Mitte ihres Zimmers am Fußboden, vor ihr entstand nach und nach ein Haufen Papierstreifen und ihr Magen gab irgendwann zu verstehen, dass er Hunger hatte. Aber davon ließ sie sich nicht ablenken.
Nach stundenlangem Drucken und Schneiden war sie irgendwann bei Z angekommen und hatte die Zupfinstrumente vom Zukunftssicheren Bauen getrennt. Jetzt musste sie nur noch den richtigen Studiengang ziehen.
Sie durchwühlte den Haufen eine Weile mit geschlossenen Augen und zog dann einen Papierstreifen von ganz unten heraus. Voller Hoffnung öffnete sie die Augen und las:
„Betriebswirtschaft für kleine und mittlere Unternehmen“.
Das war nicht gerade das, was sie sich von dieser Aktion erhofft hatte. Da konnte sie genauso gut auch einfach weiterstudieren.
Enttäuscht stand sie auf und beschloss, nun doch etwas zu essen. Aber der Kühlschrank war leer. Ihr fiel wieder ein, dass sie heute Nachmittag eigentlich hatte einkaufen wollen, aber die Geschäfte hatten vor fast zwei Stunden geschlossen. Nur ein kleiner Rest Milch war noch im Kühlschrank, der nicht einmal für eine kleine Portion Müsli reichen würde. Sie machte sich neuen Kaffee und goss ihn zu der Milch. Mit dem Milchkaffee-Müsli setzte sie sich auf ihr Bett und fragte sich, wie sie jemals den richtigen Studiengang in diesem Haufen finden sollte. Gab es vielleicht doch irgendeine höhere Macht, die sie irgendwann in den richtigen Hörsaal lenken würde?
Entmutigt löffelte sie ihr Müsli aus und erblickte dann einen einzelnen Zettel, der beim Durchwühlen des Haufens auf das Bett geflogen war. Sie hob ihn auf und betrachtete die Aufschrift:
„Virtuelle Realitäten“
stand dort und sie fragte sich, wo die Realität blieb, wenn Studiengänge in abstrakte Einheiten aus 180 Leistungspunkten á 30 Stunden Arbeitsaufwand aufgespalten wurden, man aus einem realen Haufen solcher genormter Studiengänge „virtuelle Realitäten“ zog, dieses Fach dann in einer virtuellen Lernumgebung real studierte, und das, damit sich andere in realen Vorlesungen am Ende wieder in eben diese virtuellen Welten flüchten konnten.