„11. August 2070. 21 Grad Raumtemperatur. Herzschlag im Optimalbereich. Blutzuckerspiegel unter dem Normwert. Fazit: Hunger. Empfehlung: Nudelsalat.“
Die kalte, monotone Stimme des Computers ist Anya mittlerweile vertraut. Sie nimmt die Brille ab, kappt die Verbindung zwischen sich und dem Gerät und setzt vorsichtig einen Fuß auf den Boden. Ihre Beine zittern beim Gang zum Kühlschrank. Die Zeit, die sie in Amydion verbringt, wird immer länger und die Pausen entsprechend kürzer – ihre Beinmuskulatur ist es nicht mehr gewohnt, ihren Körper weiter als ein paar Meter zu tragen.
Abgesehen vom Nudelsalat, den der Computer erfolgreich identifiziert hat, befinden sich lediglich einige Eier im Kühlschrank. Mit einem Knopfdruck erscheinen an der weißen Wand Bilder von unzähligen Lebensmitteln. Ein paar Handbewegungen und der Einkauf für die nächste Woche ist getätigt.
Die meisten physischen Bedürfnisse werden, solange sie an den Computer angeschlossen ist, automatisch ermittelt und befriedigt. Flüssigkeits- und Nahrungsmittelzufuhr sind gewährleistet und auch die lästigen Toilettenpausen sind überflüssig geworden, dank einer Technologie, die vor zehn Jahren auf den Markt gekommen ist. Damit der Realkörper seine Kraft nicht vollständig verliert, ist es allerdings Pflicht, alle drei Tage eine feste Mahlzeit zu sich zu nehmen. Die neueste Innovation ist eine App, die es ermöglicht, auch in Amydion zu schlafen, sodass man sich die Mühe erspart, sich jede Nacht abzukappen und morgens neu zu verbinden.
Die Nudeln fühlen sich mehlig und fremd an in ihrem Mund, aber vielleicht liegt es daran, dass sich ihr gesamter Realkörper fremd anfühlt. Anya verabscheut ihn und das Gefühl von Schwäche, das er ihr gibt. Nein, dieser Körper gehört nicht zu ihr, er ist nur das leidige Überbleibsel der physischen Welt, einer ihrer vielen Nachteile. Ihren wahren Körper hat sie sich selbst erschaffen, und er wartet auf sie, in ihrer digitalen Heimat, die ihr so viel mehr Möglichkeiten bietet.
Nachdem sie den letzten Bissen heruntergeschluckt hat, greift sie zur Brille und den Kabeln und schließt sich wieder an den Computer an. In der Sekunde, als sie sich hinlegt, verwandelt sich die kahle Wand, die sie vor kurzem noch angestarrt hat, in das frische Grün ihres virtuellen Gartens, in dem sie sich materialisiert. Zu den Dingen, die sie an Amydion liebt, gehören die lebendigen Farben der Landschaft, die nie verblassen.
„Anya, endlich bist du wieder online! Ich hab mich schon gefragt, wo du bleibst.“ Die meerblauen Augen ihrer Freundin Joy strahlen sie an. „Eric hat mir einen neuen Avatar gekauft. Möchtest du ihn sehen?“ In der physischen Welt befinden sie sich mehrere hundert Kilometer voneinander entfernt, aber Amydion ermöglicht es ihnen, sich täglich zu treffen.
Bevor Anya zu einer Antwort ansetzen kann, zerrt Joy sie zu einer gläsernen Zelle, in deren Innern sich die leblose Hülle eines Körpers befindet. Groß, hellhäutig, schmales Gesicht mit grünen Augen und schwarzen Haaren.
„Die Haarfarbe passt nicht zu dir.“ Anya fährt mit den Händen über die Glaswand.
„Die kann man doch noch umprogrammieren. Aber die Figur ist klasse, oder? Mal was Sportliches. Und der Avatar ist kompatibel mit meiner Kleidung!“
„Wann legst du ihn an?“
„Heute noch. Ich warte, bis Eric nach Hause kommt.“
Nach Hause. Nach Amydion. Die Welt, die man sich nach Belieben formen kann, die Welt der tausend Freiheiten.
„Benni, sind noch Kartoffeln übrig?“
Ben schüttelt den Kopf. Das Herz sackt ihm jedes Mal in die Hose, wenn das Essen, das seine kleine Farm hergibt, nicht ausreicht, um die hungrigen Mägen seiner Geschwister zu füllen. Er schnaubt. Seine Vorfahren sind zu sehr damit beschäftigt gewesen, die digitale Welt weiterzuentwickeln, um sich mit Problemen wie der Ressourcenknappheit zu befassen. Das Ergebnis davon ist eine Kluft zwischen Arm und Reich, größer als je zuvor.
Die Dämmerung verschluckt die letzten Sonnenstrahlen. Er zündet die im Raum verteilten Kerzen an, die ihnen immerhin ein wenig Licht spenden. Die Elektrizität wurde ihnen abgestellt, als er noch ein kleiner Junge war. Der Strom wird benötigt für den Betrieb der gewaltigen Maschinen und Computer, die den Zugang zu Amydion ermöglichen – da bleibt für ihn und seine Familie nichts mehr übrig.
Das Internet ist bloß der Anfang gewesen. Damals, hat sein Vater ihm erzählt, hat man Bildschirme benötigt, um Zugang zum Netz zu erhalten. Diese sind überflüssig geworden; heute schließt man gleich den ganzen Körper an. Online zu sein war damals die Ausnahme, nicht die Regel. Die Menschen haben sich die physische Welt geteilt, bevor die Wohlhabenden immer mehr Geld darin investiert haben, sich eine zweite Existenz im Netz aufzubauen. Ein zweites Leben, das nach und nach vorrangig geworden ist. Amydion war einst ein Rollenspiel im Internet, bis das Projekt von den marktführenden Spielentwicklern übernommen worden und zu einer digitalen Welt vorangeschritten ist, die die physische bald ablösen sollte. Diejenigen, die sich das Geld für die hochwertigen Avatare und Computer nicht leisten konnten, sind außen vor geblieben.
Aus diesem Grund leben die ärmeren Familien nun abgeschottet, unbeachtet von den Reichen und vernachlässigt von den Regierungen, deren einzigen Aufgabe es ist, das Leben in Amydion so luxuriös zu gestalten wie möglich.
„Wenn ich groß bin, werde ich Pilot. In Amydion!“ Der Jüngste, Bobby, blickt begeistert von seinem leeren Teller auf, als habe er den Entschluss gerade erst gefasst.
„Weißt du, Amydion ist nicht so toll, wie du dir das vorstellst.“ Ben wuschelt ihm durch das Haar.
Damals hat man zu Gott gebetet. Jetzt ist die Technologie zur neuen Religion geworden.
Ben träumt. Träumt von einer Zeit, in der alle Menschen vereint sind, eine Zeit, die es einmal gegeben hat, in der die Menschen sich mit einer einzigen Welt zufriedengaben und nicht in eine virtuelle flüchten mussten. Was ist damals nur passiert?