Der Ruf des Lebens ist stärker als die Selbstmordgedanken
Wenn mich jetzt jemand fragen würde, ob ich springen würde, würde ich nein sagen, erzählt ein Mädchen nach einem Beinahe-Suizidversuch.
Warme Sonnenstrahlen treffen mein Gesicht. Ich habe mir einen schönen Tag ausgesucht. Ich laufe am Ufer entlang, achte nicht auf Andere. Ich höre meinem Atem zu, meine Augen setzten sich an meinem Ziel fest. Groß erhebt sich die Brücke vor mir, die Brücke vor der ich immer Angst hatte, die mir jetzt wie ein Freund vorkommt. Ein Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit breitet sich aus. Bald wird alles vorbei sein. Nichts wird mich mehr quälen. Ich muss mich nicht mehr verstellen oder rechtfertigen für das was ich tue. Nie wieder werde ich eine Last für jemanden sein.
Ich hatte nie geplant, dass es so weit kommt. Trotzdem hatte ich es irgendwie gewusst. Je näher ich komme, desto langsamer werde ich. Kurz vor dem Aufgang bleibe ich stehen, doch mein Entschluss steht fest. Mit festen Schritten gehe ich den Aufgang hinauf, Schritte, die sich irgendwo verlieren.
Endlich stehe ich oben. Rechts von mir das Geländer, links rasen Autos einer Autobahn an mir vorbei. Ich werde von ein paar Fahrradfahrern überholt. Keiner bemerkt mich. Ich gehe weiter, stelle mich mittig über den Fluss. Das war's jetzt also. Sechzehn unnütze Jahre meines Lebens sind endlich vorbei.
Ich fange an zu denken.
Jedes Mal wenn meine Mutter sich mir nähert, jedes Mal wenn sie mich fertig macht, mich mit bloßen Worten zu Staub zermalmt, jedes Mal wünsche ich mir diesen Moment.
Ich denke zurück an die schönen Tage, die es irgendwann einmal gegeben hat. Denke zurück an die letzten Wochen. Mir fallen tausend Gelegenheiten ein über die ich mich hätte freuen können. Nie habe ich es getan. Nie hatte ich diese Momente verdient.
Würde mich jemand vermissen? Würde es jemandem auffallen wenn ich nicht mehr da bin? Ich sehe das Gesicht meiner Mutter vor mir. Ihre Worte trieben mich hierhin. Sie öffnete mir die Augen. Sie zeigt mir jeden Tag, wie wenig ich wert bin, wie viele Fehler ich mache und wie sinnlos ich wirklich bin.
Soll ich wirklich aufgeben? Ihr kampflos das Feld überlassen? Warum darf ich leben? Ich, die es nicht wert ist zu leben, die keinen Sinn darin sieht und endlich den Mut hat, alles hinter sich zu lassen. Warum wurde mein Leben nicht jemandem geschenkt, der es braucht?
Plötzlich verschwindet das Gefühl der Leichtigkeit. Ich spüre das Geländer, an dem ich mich krampfhaft festhalte. Ich spüre den Boden unter meinen Füßen. Das Wasser fließt unter mir entlang, Hunde bellen am Ufer. Ich drehe mich um und gehe langsam wieder runter. Nächstes Mal werde ich nicht denken.
Ich habe keine Antwort auf meine Fragen gefunden. Ich weiß nicht, warum ich nicht gesprungen bin. Ich habe tausend Gründe, es zu tun.
Vielleicht weil ich weiß, dass es irgendwo einen Sinn geben muss. Einen Sinn zu leben, auch wenn ich ihn nicht sehe. Und solange ich mir noch Fragen stellen kann, mich frage warum und wozu das alles, solange muss es noch Hoffnung geben.
Ich denke oft darüber nach, wie es wäre, endlich erlöst zu sein. Und ich denke oft an den Tag zurück an dem ich da oben stand und ins Wasser schaute. Und ich bin froh, dort gewesen zu sein. Zu spüren, dass es doch noch etwas gibt, was mich am Leben hält, auch wenn ich nicht weiß, was es ist.
Oft spüre ich das Verlangen, es noch einmal zu versuchen. Immer, wenn ich das Gefühl habe alleine zu sein, immer, wenn meine Mutter wieder kommt und mich zerfetzt, immer, wenn ich Zeit zum Nachdenken habe.
Dann erinnere ich mich zurück, spüre das Gefühl der Leichtigkeit und der Freiheit. Und ich erinnere mich an meine Fragen. Warum wurde mir dieses Leben geschenkt und nicht jemand anderem? Wen würde ich zurücklassen und was würde passieren, wenn ich nicht mehr bin? Und vor allem: Warum bin ich nicht gesprungen?
Wenn mich jetzt jemand fragen würde, ob ich springen würde, würde ich nein sagen.
Autorin / Autor: anonym - Stand: 27. November 2009