Sind wir noch zu retten?

Eine (hoffentlich etwas überspitzte) Bestandsaufnahme von Amélie, 19 Jahre

Emoticons statt Gefühle. OMG! statt Verwunderung. Freundschaftsanfragen statt Kennenlernen. Chatten statt Treffen. Wir haben 1.280 Freunde, höchstens 25 davon würden wir auf offener Straße grüßen. Wir haben 41.278 Follower, die scheinbar unseren persönlichen Wert definieren. Wir identifizieren uns über die 361 Likes, die jedes einzelne Foto unserer 85 Profilbilder hat. Auf Instagram zeigen wir unser ganzes Leben und wer uns auf Twitter folgt, weiß mehr über uns als unsere engsten Freunde. Auf ask.com geben wir mehr über uns preis als uns wirklich bewusst ist und unser Youtubekanal ist berühmt wie Miley Cyrus. Wir denken nicht mehr selbst, sondern googlen alles automatisch . Wir sind uninteressiert und unverbesserlich, weil wir doch sowieso alles und jeden kennen. Wikipedia ist die neue Bibel und Youtube unser Gottesdienst. Die Rechtschreibung ist nur noch ein Relikt aus vergangenen Tagen und von Grammatik verstehen wir ohnehin nichts mehr. Postkarten sind out und Briefe haben wir als letztes in der Grundschule geschrieben. Wir lesen keine Bücher, geschweige denn Zeitungen, wozu der Papierkram, wenn es doch mittlerweile alles im Internet gibt?! Uns wird alles Wissen dieser Welt hinterher geworfen und wir verbringen unsere – ach so kostbare – Zeit auf Facebook. Wir wollen nichts verpassen und überall gleichzeitig sein; außer im Offline-Leben. Wir sind immer online, aber wo sind wir in Wirklichkeit? Sind wir in der Wirklichkeit?

Wir nehmen in Kauf, 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche, durch unser geliebtes Smartphone verstrahlt zu werden, nur „für den Fall, dass uns jemand erreichen muss“.
Erreichbar. Verfügbar. Online. Und das ohne Luft zu holen. Wir gucken mindestens 5 Mal in einer Minute auf unser Handy, ohne zu merken wie süchtig wir danach sind. Unsere Stimmung hängt von der Anzahl der Benachrichtigungen ab, und wehe es ist keine Sprachnachricht dabei! Selbst wenn wir Menschen treffen, schreiben wir mit anderen, um immer auf dem Laufenden zu sein. Wir leben nicht im Hier und Jetzt. Von wegen yolo! Wir leben in einem Raum zwischen Realität und Internet. Zwischen Alptraum und Paradies, zwischen on und off, zwischen echt und unecht. Im Internet geben wir uns als Menschen aus, die wir gar nicht sind und tauschen unsere „Gesichter“ wie schmutzige Socken. Wir täuschen vor und geben an, so zu sein wie wir gern wären.
Wo sind wir noch wir selbst? Und welches ist das echte Selbst?

*Zukunftsangst!*
Ich weiß, dass ich nicht die einzige bin, die so denkt. Zum Glück. Und ich weiß, dass viele weit davon entfernt sind, dieses „Stadium“, was ich gerade zu beschreiben versucht habe, zu erreichen. Stadium hat immer etwas mit Entwicklung zu tun. Sei sie positiv oder negativ. Aber dieser Prozess wird weiterlaufen, wird immer weiter voranschreiten, wenn wir nicht einschreiten. Wir haben in so kurzer Zeit die Welt mit dem world wide web verändert. Wie lange gibt es das Internet? 20 Jahre? Und wie lange wird es noch dauern, dass es noch mehr unser Leben beherrscht, uns noch mehr einnimmt und unser reelles Leben ersetzt? Es hat alles seine Vor- und Nachteile, dessen bin ich mir sicher. Aber sollten wir nicht ein bisschen zurückschrauben, ein bisschen unser virtuelles Ich reduzieren? Ich glaube, das wäre vernünftig.
Wer weiß, was das „letzte Stadium“ ist? Wer weiß, wie die Welt aussieht, wenn wir von unserer Geburt an ein Facebookprofil und das neueste Iphone besitzen? Vielleicht werden uns in 40 Jahren unsere Kinder und Enkel fragen, was Zeitungen sind und wozu es einmal Bücher gab. Vielleicht gibt es irgendwann keine Geschäfte mehr, weil wir alles online kaufen. Wir gehen gar nicht mehr raus, weil wir unseren Sport dank den Trainingseinheiten auf Youtube bequem zu Hause machen können. Die logische Folgerung daraus wäre, dass wir niemanden mehr zufällig treffen, niemanden mehr zufällig kennenlernen.

Wenn ich mir bewusst mache, dass die „Facebook“-Generation die Welt in ihren Händen trägt, dass sie die Zukunft ausmacht, habe ich Angst. Ich will nicht riskieren, dass die Menschen später das Lachen verlernt haben, nur weil es genügend Smileys gibt, die dieses Gefühl darstellen können und ich möchte mir nicht vorstellen, dass sie später Geburtstage und Weihnachten mit ihrer Familie im Netz feiern, nur weil das einfacher ist, als aus allen Teilen der Welt zusammen zu kommen.

*Ein Lösungsvorschlag?*
Anscheinend sind ja alle gegen diese Entwicklung. Aber wenn wir genau hinsehen, tut niemand auch nur das Geringste dagegen. „Alleine kann ich doch eh nichts bewegen.“ Das scheint unser Spruch für alles zu sein, sei es Umwelt-, Tier- oder Datenschutz. Vielleicht sollten wir mal anfangen, das reale Leben schützen.
Wer rüttelt uns wach, damit wir diesem emotionslosen, gefakten Leben entkommen, in dem es nur darum geht, wie viele Menschen dich „kennen“? Wer führt uns vor Augen, wie diese von virtuellen Kräften beherrschte Welt in 40 Jahren aussehen könnte? Wer erinnert uns an all die Dinge, die uns abhanden kommen?

Ein gutes Buch, ein Spaziergang durch Herbstlaub, eine Wanderung mit der Familie in den Bergen. Ein Sonnenuntergang am Meer, ein Lächeln von einem Fremden, ein lauer Sommerabend unter dem Sternenhimmel. Ein Kunstprojekt, ein Musikinstrument, ein altes Handwerk, ein selbstgestrickter Schal, ein gepflückter Blumenstrauß. Ein Liebesbrief, ein Besuch bei den Großeltern, eine Märchenstunde, ein Wiedersehen mit alten Freunden.

Wir müssen es eben selbst tun. Uns wachrütteln, uns erinnern, uns vor Augen führen, was wir verlieren könnten. Nur wir können versuchen, diesem Dilemma zu entkommen, das wir uns selbst eingebrockt haben. Es wird niemand kommen, der es an unserer Stelle tut.

Sind wir noch zu retten? Keine Ahnung, ich würde es gern probieren. Ich glaube, wir sind diesen Versuch wert.

Autorin / Autor: Amélie, 19 Jahre