Internet kaputt! Gedanken aus der Zukunft
Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von Sherin, 25 Jahre
Ich stehe gleich auf, gleich. Vorher nehme ich mir noch ein paar Minuten Zeit, über den Tag, der jetzt vor mir liegt, nachzudenken. Als Historikerin bin ich allerdings notorisch mit der Vergangenheit beschäftigt und meine Gedanken kreisen um die Internetkrise vom Juli 2014. Ein Großteil unserer Kommunikation lief damals über soziale Netzwerke im Internet. Sie gewannen immer mehr an Bedeutung und beeinflussten unseren Alltag erheblich. Ich unterrichtete zu dieser Zeit an einer Schule und versuchte eine Kunst-AG zu leiten. Am ersten Tag saßen zehn SiebtklässlerInnen phlegmatisch mit ihren Smartphones an den Tischen. Ich musste mir ein Bein ausreißen, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich erinnere mich auch an eine Geburtstagsfeier in einer Bar, bei der ich allein das Geburtstagskind kannte. Links und rechts von mir saßen zwei Mädels, die nur auf ihr Handy starrten und es stellte sich als schwierig bis unmöglich heraus, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Daraufhin stand ich auf und ging zu dem Geburtstagskind, das auch alle drei Minuten sein Handy zückte, weil es einen Glückwunsch erhalten hatte.
Dann ging zum Glück das Internet kaputt, was dem vorläufig ein Ende bereitete. Die exzessive Nutzung des Internets von zu vielen Menschen zur gleichen Zeit führte zu einem Zusammenbruch der virtuellen Infrastruktur. Man konnte nicht einmal mehr eine Email schreiben. Absolut nichts ging mehr. Was an dem Tag auf den Straßen los war! Überall entstanden Massenaufläufe und spontane Demonstrationen. Einige machten Randale, andere hielten fassungslos in ihren zittrigen Händen ihr Smartphone und versuchten immer wieder, ins Internet zu kommen. Auch ich war sauer, weil ich über Facebook meinen eigenen Geburtstag geplant hatte und nun ahnungslos war, wie viele FreundInnen kommen würden. In der U-Bahn konnte ich die Smartphone-User sofort von denen unterscheiden, die keins besitzen. Die Einen waren bereits darin geübt, den Blicken der anderen Fahrgäste auszuweichen. Diejenigen jedoch, die sonst auf ihr Smartphone starrten, waren aufgeschmissen, weil sie nicht wussten, wo sie hinsehen sollten. Ihre Blicke schwirrten nervös umher, bis sie einen Punkt an der Decke fanden, den sie fixierten. Auf der Straße wimmelte es von Menschen, die sehr orientierungslos wirkten. Sie fragten Leute nach dem Weg, die wiederum andere Leute nach dem Weg fragten. Leider konnte keiner mal eben nachschauen. Schnell war die Internetkrise das Hauptthema aller noch verfügbaren Medien. Die verschiedenen Boulevardblätter titulierten: »Polizei ermittelt: Wer hat das Internet ausgeschaltet?«, oder auch: »Oh nein, wir müssen wieder reden«.
Doch schon nach ein paar Tagen hatte man sich daran gewöhnt. Von da an verschwanden Leute aus dem Straßenbild, die gebannt auf ihr Smartphone starrten – sehnsüchtig darauf wartend, dass endlich jemand ihr neues Profilbild likete oder auf einen Post reagierte. Jugendliche zogen um die Häuser, wie zu meinen Zeiten und posteten mit Edding an Häuserwände. In den Cafés wurde wieder lebhaft geschwatzt, diskutiert, gelacht und gestritten. In den Parks und an den Seen wimmelte es von Menschen. Studenten, die eine Hausarbeit schreiben mussten, hatten allerdings ein Problem. Bibliotheken waren überfüllt, weil niemand mehr an Informationen aus dem Internet kam. Aber meine DozentInnen hatten Gnade und verzichteten angesichts der Umstände auf die Einhaltung der Fristen.
Das Internet wurde natürlich wieder repariert. Man durfte jedoch von nun an nur noch über PCs und Laptops darauf zugreifen, um einem erneuten Zusammenbruch vorzubeugen. Dieser hatte schließlich einigen Unternehmen erheblichen Schaden zugefügt. Gestört hatte das ansonsten kaum jemanden. Wir haben wieder gelernt, wie man sich richtig unterhält. Die Gespräche wurden viel seltener unterbrochen und ich entdeckte an Menschen, die ich schon Jahre kenne, ganz neue Seiten. Ohne Internet haben wir nichts verpasst. Juli 2014 wird uns noch lange in Erinnerung bleiben. Für mich jedenfalls war es der lebendigste Sommer aller Zeiten.
Autorin / Autor: Sherin, 25