Mickemouse

Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von Calasa, 52 Jahre

Seufzend warf Micke einen letzten Blick auf das Display und schob sein Handy unter die Zeitung. Die Kollegen hatten eine unmissverständliche Art und Weise, einem klarzumachen, dass man während der Mittagspause kein Verständnis für private Handy-Nutzung hatte. Selbst der Hinweis, dass es sich bei seinem Handy um „seine“ Tageszeitung handelte, hatte nichts genutzt. Das hatte er sich auch anders vorgestellt. Er hatte diesen Bürojob angenommen weil er glaubte, hier mit 8 Stunden Anwesenheit und gelegentlicher EDV-Unterstützung in Ruhe für sein Fernstudium lernen zu können. Stattdessen hieß es jetzt alle 5 Minuten „Micke hier, Micke da, Micke kannst du mal eben“, und meistens hatten diese dämlichen Weiber Fragen, die heute schon ein 5jähriger beantworten konnte. Vielleicht könnte er nach der angrenzenden Besprechung wenigstens noch mal kurz den Facebook-Account checken. Am Samstag war Klausurtermin, er hatte noch keinen Handschlag getan und konnte froh sein, dass man ihn bei seiner Lerngruppe noch nicht aus dem Verteiler geschmissen hatte.

Als er das nächste Mal auf das Display schaute, war der Nachmittag vorbei. 3 Anrufe von Chantal und eine Nachricht „bin bei Andy. Spülen + Mäuse. HDL.“ Mist. Dauernd war sie bei Andy. Und den Spül hatte er gestern glatt vergessen. Außerdem hatte seine Lerngruppe ein paar Übungsaufgaben gelöst, mit denen er auf den ersten Blick nichts anfangen konnte. Aber wenn er jetzt schnell nach Hause fuhr, würde er alles locker auf die Kette kriegen. Spülen, Mäusen füttern, die Physikformeln lernen und spätestens um 20:00 Uhr vor dem Rechner sitzen.

Eine gute halbe Stunde später steckte Micke in einem Mega-Stau und stellte resigniert fest, dass er den Zeitplan nicht mehr schaffen würde. Als er kurz vor acht die Wohnung betrat, lag zu allem Überfluss noch ein Zettel auf dem Tisch. „Käfig“. Er öffnete die Tür zum Mäusekäfig und hob das kleine Häuschen hoch. Puuuuh. Das roch eher wie ein Tigerkäfig. Lolek und Bolek schauten ihn mit ihren Knopfaugen an und machten Männchen. Als Micke die Futterdose aus dem Regal holte, fiel sein Blick auf die Spüle. O je. Kein Wunder, dass Chantal sich verdrückt hatte. Da stand der Spül der ganzen Woche. Und daneben lag auffordernd das Physikbuch. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr entschied er, dass es jetzt auf eine weitere Stunde auch nicht mehr ankommen würde, setzte das Headset auf und loggte sich ein. Sekunden später schnauzte André ihn schon an: Mann, wieso kommst du jetzt erst! Die haben uns gleich erwischt“. Er konzentrierte sich voll, schließlich wollte er bei seinem Team gut dastehen, auch wenn er auf dem besten Weg war, sich heute bereits die zweite Nacht um die Ohren zu schlagen.

In einer Spielpause zwischen zwei Runden war Zeit, kurz zur Toilette zu gehen und schnell etwas zu trinken, aber sicher keine Zeit für den Abwasch oder etwa die Physikaufgabe. Kurzerhand öffnete Micke den Kühlschrank, und wie erwartet war die Gefrierschublade leer. Chantal hielt nichts von Fertigpizza. Die Augen auf den Bildschirm gerichtet, um ja nicht den Anfang einer neuen Runde zu verpassen, schob Micke Teller und Schüssel zusammen und ließ sie in der Schublade verschwinden. Das war kein schlechter Trick. Chantal sah nie dort hinein, Hauptsache, die Küche war erst mal ok.
Er setzte sich wieder vor den Bildschirm, und wenige Sekunden später ging es auch schon weiter. Mann, war das spannend! Er hielt den Atem an, fast begann er im Teamspeak zu flüstern, aber es konnte jede Sekunde etwas passieren, und wenn er nicht aufpaßte….er war Teamleader! Und sie waren so gut, sie würden es auch diesmal schaffen, das Ziel, welches sie gerade absprachen, zu erreichen und die andere in Grund und Boden zu schießen.
Micke zuckte zusammen, als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte. Chantal. Wie spät war es eigentlich? Er meldete schnell „bin gleich wieder da“ und setzte die Kopfhörer ab.
„Sitzt du schon wieder hier? Na, wenigstens ist die Küche sauber. Schatz, ich bin total müde, spielst du noch lange?“
So oder so ähnlich lief der bekannte Dialog ab. Küsschen hier, nein, ich mach nicht mehr so lange, schnell, Kopfhörer auf, und leider bekam er nur noch mit, wie der gerade begonnene Angriff auf den Kontrollpunkt scheiterte. Er hörte André fluchen, aber das würde er gleich wieder gut machen.
Weitere drei Runden später klinkte André sich aus, nicht ohne Micke noch ein paar gute Ratschläge zu geben, wie die Welt zu erobern war. Micke schielte auf die Uhr. Aber er konnte jetzt unmöglich aufhören. Das Team brauchte ihn, vor allem, wenn André schon ausgestiegen war. Morgen war der Chef nicht da, dann konnte er sich um die Physikaufgaben kümmern. Wenigstens die Runde sollte er noch zu Ende spielen.

Endlich im Bett konnte er nicht einschlafen. Wenn er die Augen schloss, sah er das Mündungsfeuer und hörte die Einschläge. Gleichzeitig überlegte Micke eine Strategie, wie man morgen den verdammten Hügel erstürmen könnte. Als er endlich in einen unruhigen Schlaf fiel, suchte er im Traum immer wieder Deckung hinter Büschen und Scheunen, ständig auf der Hut, von hinten abgeknallt zu werden. Schweißgebadet schreckte er wieder hoch. Ein Blick zum Wecker. Nein, noch 2 Stunden, wenn er mit dem Motorrad fahren würde, könnte er noch liegen bleiben.

Als er das nächste Mal auf den Wecker sah, war es halb zehn vormittags. Shit, das würde Ärger geben! Wieso hatte Chantal ihn nicht geweckt? Im Laufen zog er die Klamotten vom Vortag an und überflog den Zettel, der auf dem Küchentisch lag.
„Bin heute Abend bei Andy. Du hast vergessen, die Käfigtür zuzumachen“. Ach ja, die Mäuse. Die hatten sich wahrscheinlich hinter den Schränken verkrochen, aber dort konnten sie bis heute Abend getrost bleiben.

Im Büro angekommen, registrierte er erleichtert, dass sein Chef bereits zu seinem Außentermin unterwegs war und heute nicht mehr zurückkommen würde. Dummerweise hatte er in der Eile das Physikbuch vergessen, heute hätte er im Büro Gelegenheit zum Lernen gehabt. Dann versuchte er in der Mittagspause vergeblich, Chantal anzurufen und nahm sich fest vor, heute Abend sowohl das Geschirr zu spülen als auch endlich die Physikformeln zu lernen.

Der Tag schleppte sich dahin. Er nahm er den üblichen Kontrollanruf seines Chefs fünf Minuten vor Feierabend entgegen und machte sich sofort auf den Heimweg. Zu Hause ging er als erstes zum Käfig. Leer. Seufzend begann er, vor den Schränken kleine Schälchen mit Leckerchen aufzustellen. Das half normalerweise immer. Es dauerte auch nicht lange, da tauchte unter dem Schrank ein kleines graues Pelztierchen auf und näherte sich vorsichtig. Aber wo war der andere? Micke legte sich bäuchlings auf den Wohnzimmerteppich und schaute unter alle Schränke. Nichts. Er setzte Lolek (oder war es Bolek?) zurück in den Käfig und beschloss, sich erst mal um das Geschirr von gestern zu kümmern. Wenn er sich beeilte, konnte er vielleicht doch noch eine Runde mitspielen.

Mit den Gedanken bereits beim nächsten Angriff nahm er den Stapel Geschirr aus der Gefrierschublade. Auf dem obersten Teller lag ein kleines, graues Fellknäuel.

Autorin / Autor: Calasa, 52 Jahre