Fast 100.000 Abonnenten, über 500.000 Klicks für das bekannteste Video, regelmäßige Einladungen zu verschiedenen Challenges von anderen YouTubern – mit ihrem Beautykanal 'Mauermara' hat die 17-jährige Mara sich eine weitreichende Internetpräsenz aufgebaut, auf die jedes andere Mädchen stolz wäre.
Aber im Moment ist Mara das egal.
Im Moment sitzt Mara in Jogginghose und Schlabbertop in einer Fleecedecke eingemummt auf ihrem Bett und isst Schokolade. Viel Schokolade. Viel zu viel.
Doch die Schmerzen in ihrer Brust verschwinden nicht, selbst nach einer ganzen Tafel Zartbitterschokolade nicht. Vielleicht weil Zartbitter gerade nicht das richtige ist, um ihre Stimmung zu beschreiben. Hartbitterschokolade wäre wohl passender für dieses Gefühl, das sich seit gestern Abend in Maras Oberkörper festgesetzt hat. Seit sie Leon gehört hat, wie er über sie geschimpft hat, sie sei ein Modepüppchen geworden, eine Tussi, die nur noch für YouTube lebe und der ihr Aussehen vor der Kamera wichtiger sei als ihr Leben dahinter.
Ausgerechnet er musste das sagen, er, der sie doch überhaupt erst dazu gebracht hat, sich mit diesen typischen Mädchenthemen Make-Up und Mode genauer zu beschäftigen. Wer hat sie denn vor einem Jahr noch als 'Mauerblümchen' und 'Streberin' betitelt und Mara damit endgültig das Gefühl gegeben, langweilig und unsichtbar zu sein? Wer hat sie damit mehr verletzt als Mara sich jemals hatte vorstellen können, von bloßen Worten, nicht sehr ernst gemeint und im Alkoholrausch gelallt, verletzt zu werden?
Dabei stimmte es ja, das war das Schlimmste. Mara war eben eher unauffällig und eigentlich auch immer damit zufrieden gewesen, nicht so sehr im Vordergrund zu stehen und still neben ihren Freundinnen zu existieren – aber eben nicht mehr seit der Junge, in den sie seit der Grundschule verliebt war, sie als 'Mauerblümchen' und 'Streberin' bezeichnet hatte. Denn für ihn will sie mehr sein als die kleine Mara, die er aus der Grundschule kennt, für die er sich aber nie wirklich interessiert hat und auch nie interessieren wird.
Und deshalb fing Mara an, sich intensiver mit Make-Up, Frisuren und Modetrends zu beschäftigen. Nicht, dass sie davor ungepflegt gewesen wäre, aber ihr Aussehen war ihr eben nie so wichtig, als dass sie sich dafür vor der Schule länger als 5 Minuten vor den Spiegel gestellt hätte. Inzwischen dauert ihre tägliche Morgenroutine über 15 Minuten, mit diversen Cremes, Make-Up, Puder, Rouge, Bronzer, Mascara und was sie nicht noch alles auf ihr Gesicht pinselt. Dann noch eine Flechtfrisur, oder ein schöner Dutt, oder die Haare glätten oder locken – einfach so mit offenen Haaren geht sie kaum noch aus dem Haus.
Ihre YouTube-Fans lieben sie für ihre aufwendigen Frisuren, die verschiedenen Make-Up-Tutorials, die Hautpflegetipps. Sie fragen Mara in Kommentaren zu Videos und auf facebook nach ihrem Privatleben, wundern sich, warum so ein hübsches und kluges und witziges Mädchen keinen Freund hat und versichern ihr, wenn sie ein Junge wären, würden sie Mara sofort heiraten.
Maras Freundinnen wissen nicht so genau, was sie von Maras Wandel halten sollen. Natürlich holen sie sich gerne Schminktipps oder lassen sich eine schöne Frisur flechten, aber irgendwie ist ihnen die neue Mara auch etwas unheimlich.
Leon dagegen verachtet sie dafür.
Und Mara verachtet sich inzwischen auch. Sie wollte doch nie so werden, so ein Modepüppchen, wie Leon schon wieder richtig erkannt hat. Eigentlich hatte sie nur angefangen, Videos zu drehen und auf YouTube zu stellen, weil sie selbst anderen Mädchen helfen wollte, denen es wie ihr ging. Mädchen, die keine Ahnung,haben, welcher Hauttyp, welche Gesichtsform und Hautfarbe sie eigentlich sind, welche Farbtöne damit jetzt harmonieren und welche nicht, wie man Lidschatten richtig aufträgt, geschweige denn ein Gesicht konturiert. Wo das hinführen würde, konnte sie damals noch lange nicht ahnen. Als dann die ersten Abonnenten auftauchten und immer mehr Menschen sich ihre Videos anschauten, freute sie sich natürlich, machte immer weiter und träumte schon von ihrer goldenen Zukunft mit Leon.
Bis gestern Abend.
Bis ihr gestern Abend klar wurde, dass sie tatsächlich zu einem Modepüppchen geworden war und das aufgrund des ganzen YouTube- Trubels nicht einmal bemerkt hatte.
Bis sie sich zum ersten Mal seit einem Jahr angezogen und unabgeschminkt ins Bett legte und in den Schlaf weinte.
Bis sie die erste Tafel Schokolade aus dem Keller holte.
Bis jetzt.