„Kanal eins“, ruft Heinz in Richtung Fernseher. „Kanal fünf“, brüllt Hilde in dem Versuch, ihren Mann zu übertönen. „Verdammt nochmal, Kanal eins“, schreit Heinz keine zwei Sekunden später und schmeißt vor Wut seine Krücke um, die er neben dem Sessel geparkt hat. Krachend fällt diese gegen Hildes Rollator, ohne den sie seit ihrem 78. Geburtstag keine drei Meter mehr vorankommt. Ein ganz normaler Abend bei Familie Schneider. Während die Emotionen im Wohnzimmer hochkochen, bleibt einzig der Fernseher gelassen. Ohne jemandem zur Loyalität verpflichtet zu sein, wechselt er kontinuierlich zwischen den Sendern hin und her.
Es könnte so schön sein, das Leben mit „Hi Tv“. Ein Fernseher, der auf Stimmen reagiert und sowohl das Aufstehen als auch die leidige Suche nach der Fernbedienung überflüssig macht. Auf die Schneiders waren die Erfinder offensichtlich nicht vorbereitet – ihnen schwebten kuschelnde Pärchen vor, die die Vorlieben für das Fernsehprogramm miteinander teilen. Oder Singles, ganz unkompliziert.
Ein solch unkomplizierter Single wohnt links neben den Schneiders. Natürlich verfügt auch seine Wohnung in der Seniorenresidenz über alle technischen Annehmlichkeiten, aber der Fernseher bleibt meistens aus. Ihm haben es Smartphones angetan, genauer gesagt deren Apps. Selbstverständlich also, dass er auch in seinem Rollstuhl jederzeit und überall darauf zugreifen kann. Eine App, die die heißesten Partys der Stadt anzeigt, eine zweite App, die einen barrierefreien Weg dorthin weist. Wenn er durch das Nachtleben rollt und seine Erlebnisse mit Hilfe einer Foto-App festhält, kann schon einmal das Zeitgefühl verloren gehen. Wie gut, dass es eine App gibt, die anzeigt, ob es draußen gerade hell oder dunkel ist!
Die Partyfotos landen regelmäßig auf dem Computerbildschirm von Ingo, der rechts neben den Schneiders wohnt. Seine Leidenschaft gilt den sozialen Netzwerken, in denen er täglich kräftig mitmischt. Weil seine Hände nicht mehr so wollen wie er, umgeht er das Tippen mit einer Sprachsoftware. Seinen Mann stören die gesprochenen Statements nicht, denn der hört schwer. Natürlich hat er ein Hörgerät, weiß den Aus-Knopf jedoch durchaus zu schätzen. Zum Beispiel, wenn er malen möchte.
Im Gegensatz zu Ingo gehorchen ihm seine Hände einwandfrei, aber wie es mit zunehmender Vergreisung nun einmal so ist, melden sich Wehwehchen an anderer Stelle. Da er weder lange stehen noch die Arme weit nach oben strecken kann, malt er seine Landschaften ganz knie- und schulterschonend auf einem Tablet-PC. Den Tipp bekam er – wie sollte es anders sein – von der Partymaus zwei Türen weiter, der die App während eines nächtlichen Streifzugs durch die Künstlerszene entdeckte.
Edda aus der Wohnung direkt unter den Schneiders hat einige dieser Landschaftsbilder an ihrer Wand. Wenn sie die Wohnung schon nicht verlassen und die Welt bereisen konnte, dann musste die Welt eben zu ihr nach Hause kommen! Auch ihre Freundinnen aus Belgien und Island, mit denen sie mehrmals die Woche Second Life unsicher macht, sind von den Bildern begeistert. Edda lernte die beiden im virtuellen Rom kennen, als sie während eines Flugmanövers ungeschickterweise im Kolosseum stecken blieb. Tja, es gibt immer viel zu lachen – manchmal sogar so laut, dass der eine Etage höher tobende Streit um die Gunst des „Hi Tv“ übertönt wird.
Unternehmungslust und Kreativität statt Vereinsamung und Langeweile. Auch wenn dieses muntere Leben in der Seniorenresidenz nach Utopie klingt, könnte es längst Realität sein. Anders als in Science-Fiction-Romanen wurden all die Technologien bereits erfunden und es kommen täglich neue Anwendungen auf den Markt. Unglücklicherweise neigen wir jedoch dazu, vor lauter löblicher Wirtschaftlichkeit die Menschlichkeit zu vernachlässigen. Während die einen aufgrund der riesigen Auswahl an Bespaßungsmöglichkeiten nicht wissen, womit sie zu erst beginnen sollen, ist für Gehbehinderte nicht einmal ein „Hi Tv“ erschwinglich. Sollte eine Gesellschaft, in der Zeit und Mittel für fantastische Erfindungen zur Verfügung stehen, nicht umdenken?
Um ganz real digital zu werden, müssen wir uns nur ein bisschen in Menschlichkeit üben. Wir können es uns leisten. Vielleicht gibt es dafür ja eine App?