„Johann Wolfgang betritt Netto“, poppte die Statusanzeige auf.
Er sah sich um bei Netto. Gab es wieder nur diese beräderten Einkaufsgitter? Herrgott, ärgerte er sich, warum konnten die Leute keine Körbe nehmen, vernünftige Taschen oder gar einen Gehilfen, warum musste er sich abplagen, warum gesellte sich keine Christiane an seine Seite? War er nicht lange genug hier, hatte er keine der niederen Frauen verdient?
Er brauchte dringend 200 Cybs, das stand fest. Er hatte 190, das hieß, der Besuch bei Netto musste ihm die fehlenden 10 Cybs einbringen. Irgendwie.
„Hi Mephistoles!“ – eine hagere Frau schob sich ihm in den Weg. Ihre Haare waren blau und standen igelig ab.
Ein Punk, durchzuckte es ihn. Ein Punk. Wie hatte Johann Wolfgang auf einen Punk zu reagieren? Mit einem Klick verstellte er die Mimik auf „Wegsehen“ und drehte seinen Avatar um 90 Grad. Puh! Er musste vorsichtig sein. Wenn er sich nicht avatargemäß verhielt, würde ihm das 22 Cybs Strafe kosten. Aber wie konnte Johann Wolfgang sich bei Netto avatargemäß verhalten?
Er hatte nicht übel Lust, dieser gutbürgerlichen Punkerdirne zu zeigen, dass sie in Wirklichkeit eine studierte Altphilologin war. Dann hätte er 170 Cybs im Sack und konnte sich den ganzen Einkaufsrummel sparen. Doch die Zeit war knapp. Er musste binnen zwanzig Minuten seine 10 Cbys eingesammelt haben, sonst verpasste er die Umkleidekabine.
Er kam jetzt zu den Fischkonserven. Und ich hatte den Weibern mit diesem Johann Wolfgang imponieren wollen, gestand er sich ein. Gewiss, aber nicht denen mit blauen Haaren. Auch auf Altphilologinnen stand er eigentlich nicht. Wie hatte er … Neben seiner Denkblase poppte ein Sternchen auf: „Knuff gegen Oberarm.“ -- Oh, was denn jetzt? Er zoomte in die Totale – und blickte auf eine bis auf feinste Pixel gerenderte Gucchi-Leinenjacke. Oh Mann, Scherenhände? Johnny? – Sparrow? War das Sparrow? Ja, wenn ja, welcher? Es wimmelte nur so von Sparrows im Cyberspace. War das der, der ihm im Moulin Rouge gestern Blutsbrüderschaft angeboten hatte? „Hi, Sparrow“, tippte er. Shit, wenn der jetzt Smalltalken wollte, würde das sein Zeitfenster sprengen. Aber wenn er ihn abwies, würde er 20 Cybs Strafe aufgrund fehlender Konversation blechen müssen. Und weil er Johann Wolfgang hieß, sicher noch einmal das Doppelte. Langsam verfluchte er diesen Johann Wolfgang!
„Haste den Stilbruch gesehen, direkt bei den Möhren“, erschien in Sparrows Sprechblase, „da muss ein Genitiv hin und in der Frischtheke ist wieder ein Deppenapostroph. Johann, klemm dich dahinter, das bringt dir, geschickt ausformuliert, 800 Cybs!“
800 Cybs? Oh mein Gott, war dieser Sparrow etwa der Gunhild aus seiner Studentenzeit? Gunhild, der vertrocknete Germanist?
Sein unveränderter Gesichtsausdruck brachte ihm 10 Cbys Strafe ein, und dem anderen ein fettes Smiley-Lachgesicht.
Sparrow hatte Recht, die 800 Cbys waren nicht zu verachten. Aber schaffte er das noch? Er setzte 100 Cbys für eine dringende personal message: „Johann Wolfgang ruft den Netto-Filialleiter.“
Ein Avatar huschte herbei – mit unbedecktem Oberkörper, muskelpaketet wie ein Bodybuilder. Orgafresh, stellte er sich vor und weiter: „Eh, bissu Goethe, Alter?“
Welch ein Akzent! Johann Wolfgang ließ seine Mimik lächeln. „Es gibt eine Kleinigkeit“, tippte er, „und zwar –“ er führte das auf, was Sparrow ihm angetragen hatte und bemerkte, dass sein Gegenüber zu lange brauchte. Zu lange. Gott, der musste handeln, wenn der nicht bald handelte, wurde aus der Umkleidekabine nichts.
„2 Cbys Abzug wegen unerlaubt langem Aussitzen einer Antwort“, schlug er als Strafe vor, im selben Moment kam Leben in den Muskelbepackten, „Orgafresh wird zu einem wichtigen Telefonat gerufen“, gab die Sprechblase bekannt.
Oh Shit, Johann Wolfgang sackte zusammen, das konnte nicht wahr sein!
Ihn durchzuckte ein Gedanke. Der Anruf war ein fake. Sollte er den Joker setzen? Er sah im Screen seine Lebenszeit abtickern, fünf Minuten, keine Zeit, ein Tribunal von Zweitlebern aufs Tapet zu rufen. Wenn er sich nicht sputete, hatte er diesen Johann Wolfgang weitere sieben Tage am Wickel!
Er anvisierte die rechte Schulter des Filialleiters, mausklickte auf: „Stehen bleiben, Freundchen!“ und wartete, dass sein Text in dessen Sprechblase erschien. „Seit wann rennt ein Netto-Filialleiter mit nacktem Oberkörper durch die Cyberwelt, hm?“, ereiferte er sich.
Orgafresh antwortete mit einem Ascii-Schimpfwortzeichen, das ihm prompt 7 Cbys Strafe einfuhr. Drei weitere stellte ihm Johann Wolfgang sofort in Rechnung: Weil er Netto-Filialleiter war und ein Filialleiter hatte sich vor seiner Kundschaft nicht so zu echauffieren!
Es fehlten noch 107 und ihm blieben kaum mehr als drei Minuten.
Doch Orgafresh schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Goethe, Goethe, Goethe! Der hätte gereimt, der hätte nicht so gesprochen!", verkündete er.
Verflixt. „Leck mich!“, tippte er, grübelte. Rasch drückte er Alt+Tab und überführte sich ins Internet, googelte schnell nach „Leck mich“, und „Goethe“ – nur, falls der Andere ihn darauf festnagelte. Einen Moment war er versucht, seine hochzufriedene Mimik seinem Avatar zu übertragen, doch er gab sich besonnen.
800 Cbys tickerten auf seinem Konto ein. STRIKE! Hatte Orgafresh freiwillig gezahlt oder Sparrow ihm eine wohltätige Spende gemacht? Egal, er hatte mehr Cybs, als er nötig hatte und benutzte den Teletransporter zurück zum Portal. Vierzehn weitere Minuten Extralebenszeit kaufte er und dann verschwand er in der Umkleide.
Er riss sich die Kleidung vom Leib, der altbackene Körper des 50-jährigen verschmolz zu einem 2nd-Live-Standard. Zu seiner Rechten blätterte sich eine Bibliothek prominenter Existenzen auf, doch er hatte genug von diesen Proms. Dort links, die einfachen, die wollte er. Er klickte sie einzeln an: billige Landmädchen, welche auf Gelegenheiten warteten, Gesindel, das bettelte. Ein einfacher Gaukler wollte er werden, ja, das wollte er. Ein Gaukler mit Narrenkappe, der dem Musikus mit Rassel und Eulenspiegel diente, ja, so einer wollte er sein. Höheres, Prominenteres und vor allem das Schreibgeschäft – das hatte er hinter sich.