Zum gefühlt hundertsten Mal las Mora die vernichtenden Worte:
Sehr geehrte Frau Espinaca Selva,
bei dem Examen zum Erfassen Ihrer Englischkenntnisse erreichten Sie 460 von 1260 möglichen Punkten. Damit gilt das Niveau B1 als erreicht/nicht erreicht.
Wir wünschen Ihnen viel Erfolg in der Zukunft,
Enzo Vanez Meñosa
Zwar hatte sie nie erwartet weit über die sechshundertfünfzig nötigen Punkte hinauszukommen, aber dass sie durchfallen würde… Damit konnte sie das Auslandssemester vergessen. Diese wenigen Sätze ließen ihren Traum wieder in weite Ferne rücken. All die Stunden umsonst, in denen sie sich im Supermarkt abgeschuftet hatte. Mora wusste zwar, dass das Englisch, was in den öffentlichen Schulen Chiles vermittelt wurde, in anderen Ländern nicht einmal über das Niveau der neunten Klasse hinausging. Und selbst in den Kursen an der Uni fühlte sie sich nur unzureichend vorbereitet. Einmal hatte sie sich probeweise an wissenschaftlichen Artikeln versucht, mit denen sich eine Freundin an deren privaten Hochschule beschäftigen musste. Schon nach zwei Sätzen hatte Mora aufgegeben. So schnell wie sie vor dem Artikel kapituliert hatte, würde sie aber nicht von ihrem Traum ablassen. Dazu musste sie neben dem Studium und der Arbeit nur irgendwie Zeit fürs Englisch lernen einschieben. Aber wie sollte sie das bloß anstellen und vor allem – womit anfangen?
Während sich all ihre Freunde im Park tummelten und das Wochenende einläuteten, hatte sich Mora in ihr Zimmer zurückgezogen und den Rechner hochgefahren. Nach tagelangem Aufschieben wollte sie endlich ihr Vorhaben anpacken. Im Internet fand sie zwar Unmengen an Webseiten, die Hilfe beim Englisch lernen versprachen, doch allein die Ansammlung der Grammatik und tausender Vokabeln schreckten sie ab. Auch die Bücher, die sie auf ebay für einen erschwinglichen Preis entdeckt hatte, schienen nur an der Oberfläche zu kratzen. Resigniert starrte sie auf die geöffneten Seiten, von denen sie sich so viel erhofft hatte. Gerade als sie beschließt, es fürs Erste zu lassen, wurde sie auf einen Forumsbeitrag aufmerksam. Ein User berichtete begeistert von einem neuen Projekt, das allen das Sprachen lernen ermöglichen soll. Neugierig geworden klickte Mora auf den Link am Ende des Beitrags. Eine aufgeweckte grüne Eule begrüßte sie und im ersten Augenblick fühlte sich Mora auf den Arm genommen. Für wen sollte das sein – Kleinkinder, oder was? Allerdings begriff sie schnell, was dahinter steckte, als sie das Konzept überflog und sich die Erfahrungen anderer User durchlas. Sie suchte nach versteckten Kosten und Haken, aber als sie nichts finden konnte, zögerte sie nicht lange. Versuchen kann man es ja wenigstens, dachte sie sich und füllte die Registration aus.
„Lös dich mal von deinem geliebten PC und setz dich zu uns an den Tisch, hija, es gibt gleich Essen!“, tadelte Moras Mutter sanftmütig ihre Tochter. „Sorry, Mamá, ich mach nur noch die Lektion fertig und dann bin ich ganz für dich da“, murmelte diese und übersetzte den letzten Satz, der ihr zum Beenden der Lektion fehlte. Und erneut hatte sie es geschafft, kein Herz zu verlieren! Das bedeutete noch ein Lingot und bald würde sie davon wieder genug gesammelt haben, um ihren aktuellen Stand in Englisch testen zu können. Sie konnte es auch kaum abwarten, die neuen Vokabeln kennenzulernen. Dann würde bald die Zahl der Wörter in ihrem Wortschatz vier anstatt nur drei Stellen aufweisen. Dazu führte sie seit zwei Wochen das Ranking unter ihren Freunden, wer die meisten Punkte gesammelt hatte. Wann immer sie Zeit totzuschlagen hatte – beim Warten auf den Bus, während längerer Fahrten oder wenn die Kartoffeln auf dem Herd vor sich hin köchelten – hatte sie die App aufgerufen und ein paar Übungen absolviert. Ihre Eltern nahmen an, Mora würde nur sinnlos im Internet herumsurfen, doch seitdem sie an Moras Zimmer vorbeigegangen waren und fremd klingende Wörter aufgeschnappt hatten, begannen sie eine Verbindung zu erkennen und Mora in Ruhe zu lassen, wenn sie wieder konzentriert auf den Bildschirm starrte und eifrig in die Tasten schlug. Und auch die englischen Satzfetzen, die aus dem Zimmer drangen, wurden ein immer häufigeres Phänomen. Seit sich Mora nämlich auch bei den Diskussionen im Forum beteiligte, lernte sie Leute aus aller Welt kennen, mit denen sie ihre Erfahrungen und Fragen beim Sprachen lernen teilen konnte. Besonders mit Emma aus Irland, die ihre Spanischkenntnisse verbessern wollte, verstand sie sich blendend und irgendwann hatte Mora vorgeschlagen, miteinander zu skypen. Auch wenn einige Sprachbarrieren zu überwinden gewesen waren, am Ende hatten sie sich in einer Mischung aus Spanisch und Englisch so viel zu erzählen, dass Mora nach dem Auflegen das Gefühl gehabt hatte, eine neue Freundin dazugewonnen zu haben.
„Bye Emma! Sleep well! Buenas Noches!“, verabschiedete sich Mora nur widerwillig von ihrer Freundin, aber in Irland war es immerhin schon mitten in der Nacht. Noch nicht müde genug, um selbst schlafen zu gehen, überflog Alejandra ein paar interessant erscheinende Artikel. In der letzten Vorlesung zur Robotik hatte der Professor einen faszinierenden Aspekt angebracht, war aber nicht weiter darauf eingegangen. Also hatte sie sich eine Fachzeitschrift dazu ausgeliehen, wollte sich aber nicht nur damit zufrieden geben und recherchierte im Internet weiter. Dabei musste sie sich mittlerweile nicht mehr nur auf spanische Seiten begrenzen, was sie mit einem Funken Stolz erfüllte. Erstaunt blickte sie auf die gerade geöffnete Seite. Es gab tatsächlich einen Online-Kurs vom MIT zu genau der Thematik, den jeder mitmachen und mit einem Zertifikat abschließen konnte. So viel Glück konnte sie doch nicht haben! Und das soll nur einer von tausenden Massive Open Online Courses sein... Aber immer mit der Ruhe - erstmal musst du die Englischprüfung hinter dich bringen, rief sich Mora zur Ordnung. Und mit Emma und dem Internet an ihrer Seite fühlte sie sich bestens dafür gewappnet.