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Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von Madeleine, 17 Jahre

„Könnt ihr mich hören?“ Der Lehrer hantiert verzweifelt mit seinem Headset, scheinbar ist der Akku leer. Die digitale Infotafel neben der Tür zeigt nicht nur Luftdruck und Außentemperatur, sondern zum Glück auch die Uhrzeit. Es ist 15:02 Uhr, die zehnte Stunde hat soeben begonnen.

Das Schuljahr ist noch jung, unser Lehrer nicht mehr unbedingt; Ende 40 vielleicht. (Was jetzt nicht heißen soll, dass Menschen in diesem Alter „alt“ sind, aber sie gehören halt nicht mehr zur jungen Generation). Liefestyle-Ratgeber proklamieren, in dieser Zeit komme man vom Alter der Jugend in die Jugend des Alters. Und in dieser Jugend des Alters, in der unser Lehrer wohl gerade ist, verspüren Männer scheinbar das starke Bedürfnis, ihre technischen Kompetenzen unter Beweis zu stellen. Anders kann ich mir nicht erklären, dass unser Klassenzimmer von oben bis unten mit digitalen Hilfsmitteln ausgestattet ist.

„Hallo, Hallo, jetzt hört ihr mich, oder?“ 15:11 Uhr. Die Batterien sind inzwischen gewechselt, das Surround-System angeschaltet und die Klasse ungeduldig. Wir sind nicht viele, eigentlich nur 16 Schüler; aber ein Headset, das seine Stimme auf die dreifache Lautstärke erhöht und Ohrenschmerzen verursacht, hält unser Lehrer trotzdem für notwendig.

„Ich begrüße euch zur Einführungsstunde im Fach Laborphysik!“ Diesmal spricht der Lehrer nicht, der Text steht in dicker roter Schrift auf einem der beiden 30 Zoll Monitore. Einer steht vorne neben dem Pult, der andere hängt in der Mitte des Raumes an der Decke; für die hinteren acht Schüler sozusagen. Das Hintergrundbild zeigt eine Raumstation irgendwo im Weltall, vielleicht hundert, vielleicht auch tausend Kilometer über der Erde. Welch majestätischer Anblick! Was würden Kinder aus dem vergangenen Jahrhundert denken, wenn Sie jetzt neben mir säßen? Vielleicht fühlten sie sich auch, wie in einer Raumstation;

Der Lehrer steht samt Headset vor seinem Touchscreen-All-In-One-PC, seine Stimme hallt durch die Lautsprecher. Dort, wo früher ein Tageslichtprojektor stand, steht heute eine Document-Camera; prinzipiell das selbe, nur mit einer Kamera und einer Verbindung zum Beamer. Dieser leuchtet auf ein Acitve Whiteboard dort, wo früher eine Tafel hing. Dieses berührungsempfindliche Acitve Whiteboard dient nicht nur als Leinwand, es kann auch zur Fernsteuerung des Lehrer-PCs genutzt werden. Zur Verbindung der einzelnen Geräte sind Kabel durchs ganze Zimmer verlegt, auf dem Eckschrank thront ein WLAN-Router, daneben ein Multifunktionsdrucker sowie ein Mikrofon, das vermutlich den Lautstärkepegel während des Unterrichtes aufnehmen soll. Wem auch immer das nutzt…

Wenn ich die Atmosphäre ganz unmittelbar auf mich wirken lasse, scheint mir der Vergleich mit einer Raumstation gar nicht so abwegig; Bildschirm hier, Bildschirm da, überall kleine Lämpchen und Schalter, Kabelgewirr, das leise Surren der Kühlerventilatoren, dieser typische Geruch warmer Elektronik (der Geruch, den jeder kennt, der schon mal in einem Großraumbüro oder bei Media Markt war) und das gedämmte Licht im ohnehin schon dunklem Kellerzimmer, damit das Bild auf der Leinwand - Verzeihung, dem Active Whiteboard - gut zur Geltung kommt.

Unser Lehrer ist kein Digital Native mehr, dafür ist er zu alt. Aber da sämtliche technische Installationen im Raum ihm zuzuschreiben sind, will er scheinbar beweisen, dass er das Zeug dazu gehabt hätte. Ich bin sicher, er wäre sogar ein sehr guter Digital Native gewesen, ein regelrechter Stammesführer dieser digitalen Ureinwohner. Aber so bleibt es bei dem Ausdruck Digital Immigrant, der laut Wikipedia jemanden bezeichnet, der erst im Erwachsenenalter den Umgang mit digitalen Technologien gelernt hat.

Einige dieser digitalen Einwanderer tendieren wohl dazu, aus lauter Stolz über die (ihrerseits als gelungen empfundene) Immigration, das richtige Maß an Technik zu verfehlen. So auch unser Physiklehrer, der aus technischem Übereifer den Unterricht unnötig kompliziert gestaltet.

Denn abgesehen von verschwendeter Zeit und Energie, etwa durch Probleme mit dem Headset oder der Kalibrierung des Active Whiteboards, geht es nicht nur um die Ausstattung des Klassenzimmers.

Uns wird erklärt, dass alle Aufgaben im kommenden Schuljahr als digitale Dateien vom Lehrer-Server heruntergeladen werden müssen. Hierfür gibt es eine Acht-Schritte Anleitung, die jedem Schüler per Mail zugesandt wird. Die Aufgaben sollen mit dem eigenen Computer bearbeitet werden - wer keinen besitzt, hat Pech gehabt. Der Lehrer spricht von Formeleditoren, Messwerttabellen, Durchlaufplänen, Protokollaufträgen, Ordnerstrukturen und so weiter.
Die erledigten Aufgaben sollen wiederum auf einen anderen Server hochgeladen werden, auch dafür gibt es eine so-und-so-viel-Schritte-Anleitung per Mail. Wer Fragen hat, solle sich bitte nicht persönlich an den Lehrer wenden, sondern ihm… - eine Mail schreiben.

Zugangsparameter, Serverkontakt, Punktebewertungstabellen. Irgendwann schalte ich ab und fange an, diesen Text zu schreiben. Was ich noch mitkriege: Falsche Ordnerformatierung gibt zwei Punkte Abzug. Datei auf PC des Lehrers nicht lesbar: null Punkte. Die Aufgaben müssen nach einem bestimmten Schema benannt werden, etwa so: P-Ph6-TG1a-E06-01.10.14-B. Ein Tippfehler: null Punkte.

Die Zeiten haben sich geändert, statt „Römisch oder katholisch?“ fragt man heute „Word oder Open Office?“. Statt Gesellschaftsspielen hat man Apps, statt Briefen hat man Mails und statt einer Tafel hat man eben ein Active Whiteboard. Aber ob man deshalb besser lernt? Das Leben schöner und einfacher macht? #Ichdenkenicht