Sie war recht zufrieden mit ihrem Leben. Eigentlich sogar mehr als zufrieden, denn hatte sie nicht all das, was man für ein erfülltes Leben brauchte?
Sie hatte zahlreiche Freunde.
Sie hatte einen treuen Freund, den sie über alles liebte.
Sie war hübsch.
Sie war aufgeschlossen und schreckte nicht davor zurück, ihre Meinung offen kundzutun oder ihre Gefühle auszudrücken.
Sie war sehr beliebt.
Und Langeweile hatte sie auch nie.
Eigentlich war ihr Leben perfekt. Eigentlich …
Doch manchmal waren da diese Tage, an denen sie an allem zweifelte und ihre Zufriedenheit dem Gefühl wich, dass Zufriedenheit manchmal nicht genug war, dass diese manchmal nicht reichte, um sein Leben als perfekt bezeichnen zu können. Dass mehr zum Leben dazugehören musste.
Es waren die Tage, an denen sie gerne etwas mit anderen Leuten draußen unternommen hätte oder an denen sie Sorgen in sich trug, die sie unbedingt jemandem anvertrauen wollte und daraufhin ihre Freundesliste auf Facebook sorgfältig Name für Name durchging, bloß um festzustellen, dass der Großteil dieser Leute nicht wirklich für diese Dinge infrage kam. Würde das Mädchen, mit dem sie vor einem Monat auf einer Hausparty kurz Smalltalk gehalten hatte, heute auf der Stelle mit ihr den neuesten Film im Kino ansehen wollen? Würde der Junge aus ihrer Parallelklasse sich für die Streitigkeiten, die sie ab und an mit ihrem Freund hatte, interessieren? Die Antwort auf diese Fragen erübrigte sich wohl von selbst. Auf Facebook mochte sie zahlreiche Freunde haben, die sie nicht alle, ohne mit ihrer Maus nach unten zu scrollen, auf ihrem Computerbildschirm einsehen konnte - im wahren Leben war sie in der Lage, ihre Freunde an einer Hand abzuzählen …
Es waren die Tage, an denen ihr klar wurde, dass die meisten Konversationen, die sie mit ihrem Freund führte, über WhatsApp abgehalten wurden, wobei sie doch so gerne öfter seine Stimme hören würde. Und auch wenn sie mit ihm telefonierte, wurde ihr bewusst, dass sie sich viel lieber von seinem heißen Atem am Ohr kitzeln lassen würde, anstatt sich ihr kaltes Handy gegen ebenjenes Ohr zu pressen. Wie gerne würde sie jeden Tag in seine Augen blicken und nicht immer nur auf ein viel zu grelles Display. Überhaupt, wann hatte er sie das letzte Mal mit seinen Fingern angestupst und nicht mit seinem Facebookprofil? Und war es nicht viel einfacher gewesen, als sie seine Emotionen noch häufiger an seinem Gesicht als an seinen Emojis abgelesen hatte? Wieso beschlich sie eigentlich jedes Mal, wenn er die Profilbilder anderer Mädchen likete, dieses beklommene Gefühl in der Magengrube? War ihre Beziehung noch mehr als der aufeinander abgestimmte Beziehungsstatus?
Es waren die Tage, an denen sie sich abends ungeschminkt und ausgelaugt ins Bett fallen ließ und sich hässlich fühlte. Wenn sie sich dann ihre Bilder auf Instagram ansah, kam es ihr vor, als würde sie in das strahlende Gesicht einer anderen blicken. Einer, die glücklicher war und schön, während sie selbst hier niedergeschlagen im Bett lag, ganz nach dem Motto: #nofilter. Denn im wahren Leben wurde man nicht durch einen Filter gesehen, da sah man so aus, wie es die Lichtverhältnisse eben hergaben. Außerdem lächelte man auch nicht immer. Im wahren Leben, da gab es nur die ungefilterte Wahrheit zu sehen, man konnte niemandem so leicht etwas vormachen. Und im wahren Leben war sie nun mal nicht hübsch.
Es waren die Tage, an denen ihr bewusst wurde, dass sie sich bei Diskussionen in der Schule oder generell unter Menschen, die sie nicht gut kannte, häufig zurückhielt. An denen sie ihre Wut in sich hineinfraß, bis sie Magenschmerzen bekam; an denen sie Ungerechtigkeiten nicht ansprach, sondern bloß in ihrem Kopf wieder und wieder abspielte. Denn das wahre Leben war kein Onlineforum, in dem sie anonym ihre Meinung kundtun konnte. Im wahren Leben hatte sie nur einen Usernamen, und wenn dieser einmal bei anderen in Ungnade gefallen wäre, würden diese anderen sich immer daran erinnern. Und es konnte sehr kompliziert werden, wenn man sich im wahren Leben einen neuen Namen zulegen wollte … Es waren außerdem die Tage, an denen sie weinend über ihrem anonymen Blogpost zusammenbrach, in dem sie alle Gefühle, die sie zuvor in sich hineingefressen hatte, wieder ausspie. Leute auf der ganzen Welt waren nun in der Lage, zu lesen, wie sie sich fühlte. Und dennoch würden die Leute, denen die Gefühle gewidmet waren, nie herausfinden, dass sie es war, die da fühlte.
Es waren die Tage, an denen sie merkte, dass Likes albern waren. Wieso war es den Menschen so verdammt wichtig, von Leuten mit Anerkennung bedacht zu werden, die sie selber nicht mal ansatzweise mochten? Trotzdem erwischte sie sich dabei, nicht dazu fähig zu sein, sich bei Facebook abzumelden. Vielleicht könnte sie verpassen, wie jemand ihr Bild likete … Vielleicht könnte in der nächsten Sekunde jemand ihren Status kommentieren … Denn wenn sie schon im wahren Leben nicht beliebt war, so wollte sie es immerhin im Internet sein. Oder sich zumindest einreden, dass sie es war.
Es waren die Tage, an denen sie die quälende Langeweile damit totschlug, im Netz zu surfen. Sie googlete Fragen, zu denen sie sich selber eine Meinung hätte bilden können, informierte sich über bekannte Leute, die ein aufregenderes Leben führten, als sie es je tun würde, und sah YouTube-Videos von Personen, die um die Welt reisten, während sie schwerfällig auf ihrem Sofa saß, von dem sie sich bloß wegbewegte, um das Aufladekabel ihres Smartphones zu holen. Denn dank ihres Smartphones hatte sie oft den Eindruck, so etwas wie Langeweile gäbe es für sie nicht.
Es waren diese Tage, an denen sie unzufrieden war.
Aber eigentlich war ihr Leben perfekt.