Die Idee ist nicht neu. Viele Autoren und auch Regisseure haben schon ihr Roman- oder Filmpersonal auf mehr oder weniger einsame Inseln geschickt. Unter anderem hat auch Isabel Abedi dieses Thema aufgegriffen und sie verwendet in ihrem Jugendroman „Isola“ eine sehr, sehr ähnliche Ausgangssituation, wie die, die Aleksander Melli in dem Buch „Das Inselexperiment“ verwendet hat. Eine bestimmte Anzahl von Kindern bzw. Jugendliche werden auf eine Insel geschickt, wo sie von unzähligen Kameras gefilmt werden. Sie bekommen eine Aufgabe, die sie meistern müssen, können, dürfen… und letztendlich soll daraus ein Film oder eine Reality- Show werden. Ich gebe zu, auch weil ich „Isola“ erst vor kurzem gelesen habe, war ich sehr neugierig, wie AleKSander Melli in seinem Roman mit dem Thema umgehen würde, und was mich auf dieser Insel erwarten würde. Diese Kinder sollen auf der Insel eine Kinderregierung mit eigenen Parteien und allem, was dazu gehört, bilden. Sie werden von Erwachsenen betreut, doch sie haben, jedenfalls in gewissen Grenzen, freien Entscheidungsspielraum. Bis das Ganze eskaliert. Als ich also das Buch in den Händen halte, fällt mir als erstes sein Gewicht auf. Es ist schön dick. „Wunderbar“, denke ich mir „also genug Zeit, um die zwanzig Kinder kennen zu lernen, die auf der Insel Fernholmen im Oslofjord ihre Sommerferien verbringen sollen.“
Der Einband ist sehr dunkel gehalten, nur links oben steht die Silhouette eines Kindes mit Taschenlampe vor einer Lichtquelle, und im unteren Bereich des Buches ist eine grüne Insel vor einem blaugrünen Himmel abgebildet. Dazwischen stehen Autor und Titel, und rechts unten ist ein hellgrüner Button mit der Aufschrift „Das Besondere Buch“. Gut, prüfen wir das. Als ich das Buch aufschlage, sehe ich erst einmal das Foto des Autors und erfahre, dass dieses Buch eigentlich eine Kurzgeschichte für die Söhne des Autors werden sollte, welche sich dann aber zu einem ausgewachsenen Roman „für Kinder und Jugendliche“ entwickelt hat. Dann erfahre ich noch, dass dieses Buch Felix und Leo gewidmet ist, und endlich beginnt das Buch mit der Kapitelüberschrift „Max Berg“, womit ich schon die Hauptperson kennengelernt habe.
Ich stolpere schon über den ersten Satz. „Es war ein glaubwürdiger Tag im November.“ Damit weiß ich schon, dass es noch ein halbes Jahr dauern wird, bevor Max auf die Insel kommen wird, da er ja seinen Sommer auf ihr verbringt. Außerdem wundere ich mich, dass ein Tag glaubwürdig sein kann. Zuerst bin ich geneigt, dem Übersetzer nur sehr mangelhafte Kompetenz zuzusprechen, doch dann beginne ich, über den Satz nachzudenken, und stelle fest, wie viel in dieser eine Satz schon enthält.
Zum einen könnte der Autor damit meinen, dass es ein Tag war, an dem man viel eher bereit war, etwas zu glauben, als an anderen Tagen, schließlich bekommt Max in den nächsten Sekunden eine Karte, die verkündet, dass die „wahre Wirklichkeit“ bald kommen wird, oder vielleicht meint er auch, dass man ihm selbst diese Geschichte an diesem Tag viel eher glauben würde, als an anderen. Oder es war ein Tag wie jeder andere, sodass es recht wahrscheinlich und auch glaubwürdig ist, dass dieser Tag wirklich stattgefunden hat. Solche Sätze zum Nachdenken sind über das ganze Buch verteilt, und wenn man sich darüber Gedanken macht, merkt man, dass dies keine gedankenlos geschriebenen Floskeln sind, sondern, dass der Autor sich dabei etwas gedacht hat.
Außerdem nimmt sich der Erzähler als eigenständiges Individuum wahr. Wie, als würde er kurz die Buchstaben, die er zusammengefügt hat, beiseiteschieben, und seinen Kopf herausstrecken, um den Leser anzusehen, und etwas zu erklären, so erzählt er auch manchmal von sich selbst, oder spricht den Leser ab und zu an, um dann wieder in den Hintergrund zu treten. Zudem erzählt er auch manchmal von Dingen, die die Handlung nur am Rande berühren, die man aber liest, und sich dann denkt: „Wow, stimmt, das habe ich mir auch schon immer gedacht, konnte es aber bis jetzt nicht in Worte fassen.“ Ein Beispiel von vielen: „Sogar die besten Feste sind traurig. Du merkst es nicht immer gleich, aber wenn das Feuer heruntergebrannt ist und alle anderen schlafen, kann dich das Gefühl überkommen, wie eine traurige Erklärung für einen Witz, über den du einmal herzlich gelacht hast.“ In dieser Beziehung ist das Buch definitiv besonders.
Die Umschlagsgestaltung hat mit der Handlung letztendlich nicht viel zu tun, denn mir ist nicht aufgefallen, dass eines der Kinder auch nur einmal eine Taschenlampe in der Hand gehabt hätte, oder dass sie im Dunklen etwas gesucht hätten. Ich habe es genossen, das Buch zu lesen, jedenfalls teilweise, und obwohl ich nach den ersten Seiten beinahe geneigt gewesen wäre, das Buch wegzulegen. Wer will denn schon die Geschichte eines zwölfjährigen Jungen lesen, dessen Hobby es ist, Zeitungen zu lesen und Nachrichten zu hören, vor allem, wenn man sich selbst nicht für Politik interessiert, und außerdem noch ein paar Jahre älter ist als die Hauptpersonen?
Erstaunlicherweise hat mich das Buch trotzdem in seinen Bann gezogen, vor allem auch wegen den Kommentaren des Autors, und, was vielleicht noch wichtiger ist, es hat mir gezeigt, wie notwendig es ist, sich für Politik zu Interessieren. Der Klimawandel, die Hungersnöte und Kriege stehen drohend am Horizont, und ohne Politik kann man überhaupt nichts dagegen machen! Aber es war kein Buch, das belehren sollte. Es soll eine Geschichte erzählen, und es ist eine gute Geschichte geworden, die man gerne liest.
Ob mir das Buch gefallen hat? Das ist eine gute Frage. Wie gesagt, es war schön, es zu lesen, doch ich bin der Meinung, dass der Autor den Höhepunkt der Geschichte weniger geschmacklos gestalten hätte können. Mir wurde schon beim Lesen schlecht, und ich fand die beschriebenen Handlungen abstoßend, obwohl sie alles in allem nicht sehr schlimm waren. Es war der Zusammenhang, der sie so widerlich hat. Ich habe lange überlegt, weshalb der Autor diesen Teil überhaupt geschrieben hat, und vielleicht wollte er damit die Geschmacklosigkeiten von Fernsehsendern und die Geschmacklosigkeiten von Kindern, denen die gesamte Macht übertragen wurde, darstellen, aber meiner Meinung nach hätte es nicht sein müssen.
Ich war mir sicher, dass auch das Ende des Buchs mich nicht mehr wieder versöhnlich stimmen können würde, aber überraschenderweise hat der Autor es geschafft, dass ich das Buch nicht mit Ekel weggelegt habe, sondern, dass ich die Handlung einigermaßen akzeptieren konnte, und so sagen kann: Ja, das Buch ist gut, (mit ein paar Einschränkungen) und ja, mir hat das Buch gefallen!
*Erschienen im Rowohlt Taschenbuch Verlag*
Autorin / Autor: kalypso - Stand: 23. Juli 2010