Jeder Tag ist eine Prüfung, aber zugleich eine Chance, etwas zu ändern.
Draußen liegt Schnee, das kann ich ganz gut sehen. Ich habe ein großes Fenster, kann die Welt bestens sehen, ob ich nun will oder nicht. Meistens will ich nicht.
Durch den Schnee hüpft die Amsel, die vor Jahren in unseren Garten gezogen ist, sie lebt irgendwo in der hochgewachsenen Hecke. Ihre kleinen Spuren ziehen sich kreuz und quer über die weiße Decke, die das Rasengrün verschwinden lässt. Die Amsel hüpft immer noch umher, vielleicht sucht sie, oder vielmehr er, denn es ist ein Amselmännchen, nach Nahrung, die da nicht ist. Sinnlos, hier zu suchen, denke ich und schau wieder weg.
Die Sonne kriecht hinter den Wolken hervor und scheint grell und unbarmherzig in mein Zimmer und heizt es auf, als hätten wir Sommer. Ich hasse das. Ich mag den Herbst, mit Regen und Sturm, und ich mag den Winter, wenn alles trist und grau ist, und manchmal mag ich auch den Frühling, wenn bei Regen alles in unnatürliche Farben gehüllt wird. Aber den Sommer mag ich nicht. Früher schon, aber jetzt? Never. Der Sommer ist eine gefährliche Jahreszeit.
Ich ziehe die Vorhänge zu und schließe die Sonne und ihre Happy-World-Stimmung aus, drehe die Musik auf und setze mich mit meinem türkisen Füller an mein Tagebuch. Mein Tagebuch ist für mich absolut notwendig, wie die Luft, die man zum Atmen braucht. Aktuell ist es ein hübsches Büchlein mit einer blonden Elfe bei lilablauer Nacht vorne drauf. Verzaubernd hübsch. Der Inhalt nicht.
Der erste Satz des zweiten Eintrags meines fünften Tagebuchs in zwei Jahren lautet:
Würde ich leben, wenn ich es könnte?
Und tatsächlich beschäftigt mich diese Frage immer wieder, genau wie all die anderen Fragen, die sich um das Leben und das Nicht-Leben, um Pauseknöpfe und Dornröschenschlaf drehen.
Es ist längst keine pubertäre Phase mehr, und natürlich ist mir das irgendwo schon lange klar gewesen. Dennoch brauchte es monatelange Überzeugungsversuche meiner Freunde und viele, viele Dummheiten meinerseits, ehe ich mich dazu durchringen konnte, Hilfe zu suchen, geschweige denn, meinen Eltern auch nur im Ansatz von meiner Lebensunlust zu erzählen.
Es ist etwas, was sich die wenigsten in diesem Ausmaß vorstellen können. Klar, jeder ist mal „down“, „total fertig“ und „einfach depri“, aber wer weiß schon wie das ist, wenn das ein Dauerzustand ist? Wenn man Tag für Tag verzweifelt und man sich nachts hin- und herwälzt, während die Angst in einen krabbelt und du nur noch heulen willst?
Genauso ist es für mich. Eigentlich total grundlos; ich liebe meine Familie und die ist echt super. Ich wurde nie geschlagen, missbraucht, unter Leistungsdruck gesetzt oder sonst was. Meine Eltern haben alles getan, was man unter vorbeugenden Maßnahmen bei Jugenddepressivität finden kann. Trotzdem bin ich wie ich bin. Vielleicht waren es andere Dinge, die mich gebrochen haben, immer wieder, bis ich vergaß, wie man lacht. Vielleicht hätte ich (früher) über das eine, das andere reden sollen. Vielleicht hatte ich einfach nur Pech. Wo auch immer der Grund liegen mag, jetzt stehe ich da, am Abgrund zwischen Leben und Tod und jeder Tag ist eine Prüfung.
Seit kurzem gehe ich zur Psychotherapie und beginne, mich zu öffnen, nachdem ich jahrelang alles daran setzte, mich zu verschließen. Ich kämpfe jeden Tag, um die negativen Gedanken nicht zu sehr in meinen Kopf zu lassen, kämpfe jeden Tag gegen den Wunsch, den Drang zu sterben und gegen die Erinnerungen. Es gibt viele Erinnerungen, die mich immer wieder aufs Neue brechen.
Die Nacht mit zu vielen Tabletten. Der Tag alleine am Waldrand. Diese eine Pause in der Schule.
Ich wollte es. Wollte es wirklich. Diese Welt verlassen, weil es mir unmöglich geworden war, in ihr zu leben. Es kommt immer noch viel zu häufig vor, dass ich das wirklich will, so sehr will, dass ich es gern wieder versuchen würde, doch ich arbeite daran. Das erste, was mir dabei hilft, ist, mit anderen zu reden. Es war ein großer Schritt, mich meinen Freunden anzuvertrauen, aber es ist eine ebenso große Absicherung. Ich weiß, dass sie mir zuhören, und dass ich ihnen aus für mich unerklärlichen Gründen wichtig bin. Deshalb kann ich ihnen schreiben, wenn es mir schlecht geht und sie halten mich davon ab, etwas Blödes zu tun.
Keine Ideallösung, natürlich nicht, aber ein kleiner Fortschritt. Auch jetzt darüber zu schreiben fällt mir schwer, denn ich kann nicht wirklich beschreiben, wie es sich tatsächlich anfühlt. Wer es nicht selbst erlebt, kann es gar nicht wirklich verstehen und ich wünsche niemandem, dass er es erlebt. Es erscheint so unmöglich, so eine Todessehnsucht zu entwickeln, wo es doch in der Natur des Menschen liegt, sich selbst am Leben zu erhalten.
Doch für mich ist es unbegreiflich, wie man das Leben so sehr lieben, es so sehr genießen kann. Ich habe es schlicht verlernt.
Werde ich wieder lernen, wie das ist? Das Leben? Wie es ist zu lachen, ohne dabei eigentlich weinen zu wollen?
Ich weiß es nicht. Das kann nur die Zeit beantworten. Mir bleibt nur, mich zu öffnen, über meine Ängste und die Trauer und die Verzweiflung zu reden und eine Lösung zu finden, wie man das nach und nach ändern kann. Es wird ein langer Weg, lang und hart und voller Hindernisse. Ich werde fallen. Werde wieder am Boden sein und neu anfangen müssen.
Aber jeden Tag finde ich neue Dinge, die es vielleicht wert sind. Geflüsterte Unterhaltungen mit Freundinnen in der Schule, die in viel zu lautem Gekicher enden. Ein gutes Buch, das dich in seinen Bann reißt. Dieses eine Lied, bei dem die Ahnung von Glück den Körper durchflutet. Oder einfach nur ein Muffin, frisch aus dem Ofen. Die Liebe von Freunden und Familie.
Jeder Tag ist eine Prüfung, aber zugleich eine Chance, etwas zu ändern.
Ich glaube das ist es, worauf es wirklich ankommt.
Autorin / Autor: Clacey Lacrima - Stand: 9. Februar 2015