„Jetzt sag schon, Lilli.“ Sofie lächelte, aber ihre Stimme klang fordernd. Sie rutschte auf ihrem anthrazitfarbenen Sitzplatz nach vorn und kniff die Augen zusammen. „In wen?“
Die Bahn glitt am Alten Museum vorbei. Durch die blau getönte Scheibe beobachtete Lilli einen Riesenpulk Fahrradfahrer, der sich an einer Ampel, geschlossen wie ein Bienenschwarm, über die Straße bewegte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schaukelten in einem künstlich angelegten Dschungel auf einem Flachdach drei kleine Affen in einer Hängematte hin und her.
„Ist doch nicht so wichtig“, log sie und spürte, wie eine heiße Welle ihren Körper durchflutete, um gleich darauf in ihrer Magengrube mit tausend Stichen zu verebben, als hätte sie einen Seeigel verschluckt.
„Wie heißt er?“, bohrte Sofie weiter. „Ich bin doch deine beste Freundin.“ Sie lehnte sich zurück und sah Lilli direkt in die Augen. Dieser entging die Enttäuschung nicht, die sich über das Gesicht ihrer Freundin legte wie ein schwacher Schatten. Ein schwacher Schatten, der drohte, immer dunkler zu werden, wenn sie nicht endlich mit der Sprache herausrückte. Sie kannten sich schon seit dem Kindergarten. Das war jetzt über zehn Jahre her.
„Also gut“, sagte Lilli und richtete ihren Oberkörper auf. Plötzlich schwitzte sie. Ganz gewaltig sogar. „In Jessie.“ Diese zwei Worte hallten nach wie ein Echo.
„In Jessie? Moment mal …“ Die Bahn vom anderen Ende der Stadt glitt über sie hinweg wie eine sanfte Druckwelle. Sie fuhren am großen Lichtpark vorbei. Die sonnetankenden Solarkonstruktionen streckten wie ausgehungerte Monstertintenfische ihre Tentakel in den Himmel. „In Jessie?“, wiederholte Sofie und kniff zum zweiten Mal an diesem Morgen die Augen zusammen, während sie Lilli ungläubig ansah. Und dieser Hauch von Kränkung, der vorher ihr Gesicht überzogen hatte wie eine zweite Haut, verschwand im selben Moment. Stattdessen malmten ihre Kiefer, ihr Blick wurde hart. Lilli wendete sich ab. Ihr Blick fiel auf eine der vielen bunten Fitnessinseln, die in der Innenstadt seit Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen und aussahen wie Spielplätze für Erwachsene. Früher gab es nur so etwas wie Folterkammern, hatte sie im Alten Museum erfahren. Lilli sah Sofie an und stieß einen Seufzer aus. Sie hätte es wissen müssen – und schlimmer noch – sie hatte es bereits vorher gewusst. Sofie konnte das nicht verstehen. Auf ihrem persönlichen Tellerrand zappelten vielleicht noch ein paar androgyn aussehende Typen aus der Oberstufe herum, bevor sie in den Abgrund des Undenkbaren hinabstürzten wie die Lemminge beim Massenselbstmord, während um den Platz in der Tellermitte drei nahezu identisch aussehende Jungs aus ihrer Klassenstufe buhlten. Ziemlich langweilig, fand Lilli.
„Du bist in ein Mädchen verliebt? In ein Mädchen?“ In Sofies Stimme schwang nun unverhohlenes Entsetzen mit. Lilli schwieg. Sie hatte einen Kloß im Hals, mindestens so dick wie eine Fleischtomate. Ihr Herz klopfte wie ein Vorschlaghammer auf der höchsten Stufe. Natürlich war es nicht unbedingt gewöhnlich, in ein Mädchen verliebt zu sein. Andererseits: So selten schien das auch nicht vorzukommen, und außerdem fühlte es sich gut an – verdammt gut. Auf einmal kam die Kraft wieder, die sich in Sofies Ablehnung verloren hatte.
„Ein unterlassener Versuch der Perspektivenübernahme ist anzeigepflichtig und strafbar“, sagte sie, schob sich die Sonnenbrille ins Haar und musterte ihre Freundin mit strengem Blick. Lilli dachte an Horst, der mit ihr und über zwanzig weiteren Mitbewohnern in einer alten Villa am Stadtrand lebte. Horst hatte sich über den Altersunterschied zwischen Katrin und Jonathan lustig gemacht. Was Jonathan mit dieser alten Schachtel wolle, und ob sie ihm auch das Zimmer aufräume, hatte er über den Hausflur gebrüllt. Das brachte ihm achtzig Sozialstunden ein. Er musste drei fortlaufende Gymnastikkurse für Frauen ab 50 anbieten, und Lilli und die anderen Kids aus ihrer Hausgemeinschaft klebten mit der Nase am Außenfenster der Turnhalle und begutachteten Horst, wie er mit hochrotem Kopf und steif wie ein Kleiderbügel seine Übungen vorturnte, welche die Frauen mit geschmeidigen Bewegungen - wie eine stumme Korrektur – beflissen nachturnten. Unterlassene Perspektivenübernahme wurde wirklich hart bestraft, das wusste sie. Und war das bei ihnen nicht so ähnlich wie bei Katrin und Jonathan? Ein Paar, das auf den ersten Blick außergewöhnlich war, aber einfach gut zusammen passte? Lilli kratzte sich am Oberschenkel. Sie fischte Rudis Einkaufszettel aus der Hosentasche. Eier, Brot und Limonade sollte sie ihm mitbringen. Er reparierte dafür ihr Fahrrad in der Gemeinschaftswerkstatt. Dann könnte sie auch endlich wieder mit dem Rad zur Schule fahren, statt sich mit Sofie in der Bahn anzuschweigen.
Ihre Freundin starrte immer noch aus dem Fenster und biss auf ihrer Unterlippe herum. Nur noch eine Haltestelle. Lilli sah Sofie prüfend an. Dachte sie gerade darüber nach, was für eine Strafe ihr drohen würde?
Sie trabten das letzte Stück ihres gemeinsamen Schulwegs nebeneinander her wie zwei alte Ackergäule. Die Schultern nach vorne hängend, den Blick stumpf auf den Asphalt gerichtet. Ihre Rucksäcke scheuerten auf der Haut wie zwei schlecht befestigte Satteltaschen. Über ihren gesenkten Köpfen glitt nahezu lautlos eine der vielen Gondeln hinweg, welche die Hochhäuser der Stadt miteinander verbanden wie ein wirres Spinnennetz. Der helle Ton einer Fahrradklingel durchschnitt die frische Morgenluft.
„Okay“, murrte Sofie. „Ich versuch‘s. So wie ich in Tim, Felix oder Jakob verknallt bin …“ Jetzt mussten beide lachen. Sofie konnte sich einfach nicht entscheiden. „So bist du eben in Jessie verliebt. Oder?“ Sie sah nun endlich wieder auf, und Lilli stellte erleichtert fest, dass ihre Freundin beinahe so breit grinste wie immer. „Und Jessie ist auch ziemlich cool, finde ich“, fügte Sofie hinzu, und sie boxte Lilli in die Seite, während sie gemeinsam auf den Schulhof traten.