Sommer 2050
Liebe Line,
ich schreibe dir aus dem Jahr 2050, obwohl ich weiß, dass ich dir den Brief leider nicht zukommen
lassen kann, weil ich diesen Brief im Jahre 2015 nie in der Hand gehalten habe.
Nein, ich schreibe diesen Brief für mich, als Tagebucheintrag und vielleicht auch für das Mädchen
aus dem Jahr 2015, das sich immer noch irgendwo in mir befindet und dem ich so gerne von
meinem Leben in Convivendum erzählen würde.
Vielleicht beginne ich am besten mit meiner Wohnung. Ich wohne nicht in einem Hochhaus,
sondern in einer kleinen Hütte. Hier soll nämlich jeder sein Heim selbst bauen. Hört sich für dich
wohl sehr seltsam an, oder? Aber das ist es nicht. Es läuft nämlich folgendermaßen ab: Erst wurden
mir verschiedene Bauflächen gezeigt, von denen ich mir dann eine ausgesucht habe. Sie lagen in
unterschiedlichen Stadtvierteln, in denen jeweils Leute wohnen, die den gleichen Beruf, das gleiche
Hobby oder Ähnliches teilen. So konnte ich mir meine eigene „Familie“ wählen und lebe jetzt mit
ihnen zusammen im „Viertel der Geschichten“. In Convivendum wird sehr viel Wert auf
Gemeinschaft gelegt, also wundere dich nicht, wenn ich mehr von „uns“ als von „mir“ berichte.
Damit ich mein Haus bezahlen konnte, musste ich sehr viel arbeiten. Bei uns sind Handwerksberufe
sehr verbreitet und viele bauen auch Obst und Gemüse im eigenen Garten an, da man seine Waren
gleich eintauschen kann. Es ist zwar immer noch Geld im Umlauf, hat bei uns aber nicht mehr die
Bedeutung, die ihm zu deiner Zeit beigemessen wurde. Das meiste verdiene ich allerdings mit den
Geschichten, die ich sammle. Meine Nachbarn kommen oft zu mir, erzählen mir Märchen oder
Sagen, die ich dann aufschreibe und zu Büchern binde. Jedes davon ist einzigartig und Leute aus
der ganzen Stadt stellen sich gerne eines ins Regal.
Ach ja, unsere Straßen sind auch nicht mehr so wie früher. In unseren Vierteln gibt es nur noch
wenige Asphaltstraßen. Unsere Häuser sind hauptsächlich durch Wiesen- und Schotterpfade oder
gepflasterte Wege miteinander verbunden. Stets wird darauf geachtet, dass wir auf allen Wegen mit
dem Fahrrad bequem durchkommen. Und wenn wir wirklich mal weitere Strecken zurücklegen
möchten (z. B. wenn wir Verwandte in anderen Stadtteilen besuchen möchten), dann steigen wir
nicht in Elektro-Autos, sondern nutzen gemeinsam die solarbetriebenen Straßenbahnen. Sie sind auf
riesigen Brücken unterwegs, die sich über die Stadt spannen wie ein überdimensionales
Spinnennetz.
Aber unsere Verwandten und Bekannten sehen wir auch bei den monatlichen Treffen sehr oft. Bei
denen organisieren wir immer zusammen mit einem anderen Stadtviertel eine Feier, bei der Kuchen,
Kekse, Plätzchen, Pizza und Fladen gebacken und geteilt werden, manchmal auch ein Flohmarkt
veranstaltet wird und wir uns näher kennen lernen. Das ist sehr wichtig, sonst würden wir uns
voneinander abschotten und uns vielleicht auch verfeinden, ohne zu wissen, warum.
Das größte Fest hier ist aber das Sommerfest mit dem Jahrmarkt, der jeden August auf dem großen
Platz in der Mitte unserer Stadt aufgebaut wird. Alle Stadtbewohner treffen sich, egal aus welchen
Vierteln und welche Berufe wir ausüben. Auf dem ganzen Platz stehen Karusselle, Stände mit
Essen, Dosenwerfbuden und vieles mehr. Und zwischendrin findet man Kästen, in die jeder Bürger
Briefe mit Verbesserungsvorschlägen oder Kritik an die Stadt einwerfen darf. Nach dem ganzen
Jahrmarktrummel werden uns diese dann vorgelesen und wir alle können darüber abstimmen, ob
und wie wir diese Vorschläge durchsetzen, um bestehende Mängel beheben zu können.
Ein richtiges Stadtoberhaupt gibt es nicht. Allerdings habe ich mich zu einer Vertreterinnen meines
Stadtviertels ausbilden lassen. Bei Volksabstimmungen, wie z. B. die an unserem Sommerfest, helfe
ich nun, außerdem nehme ich Kontakt mit Vertretern anderer Viertel auf und wir stellen uns
gegenseitig Vorschläge aus unseren Stadtteilen vor. Auch wenn es in meinem Viertel Streit gibt,
helfe ich zu schlichten und Kompromisse zu finden.
Jetzt fragst du dich sicher, ob ich das neben meinem eigentlichen Beruf noch schaffe. Aber für uns
ist der Beruf nicht mehr so wichtig wie früher. Wir legen viel mehr Wert auf das Zusammenleben in
der Familie und auch als eine Stadt. Viele von uns gehen nicht mehr morgens ins Büro und kommen
erst zum Abendessen wieder nach Hause. Eine meiner Freundinnen hat mich auch schon mal
gefragt, ob wir unsere Berufe nicht mal für ein paar Wochen tauschen sollten. Sie ist dann in mein
Haus eingezogen, ich in ihres und wir haben den Garten des jeweils anderen gepflegt. Außerdem
habe ich ihr beigebracht, wie man als Vertreterin eines Viertels mit allem gut klarkommt und wie
man Bücher bindet. Sie zeigte mir, wie man die Solaranlagen auf den Dächern mit aufbaut und
überprüft. Siehst du? Uns geht es nicht um Geld und Erfolg, sondern um die neuen Erfahrungen, die
wir sammeln können.
Apropos Solaranlagen. Unseren Strom gewinnen wir durch verschiedene regenerative Energien.
Zum einen ist da die Solarenergie: Jeder hat irgendwo auf dem Dach oder an den Hauswänden
Solarzellen sitzen. Zum anderen stehen am Rand der Stadt (und bei ein paar Verrückten auch auf
dem Dach) Windräder, die ebenso Strom produzieren wie die großen Generatoren im Fluss durch
die Kraft der Wellen.
Und zum Schluss möchtest du sicher wissen, wie es mit Natur in unserer Stadt aussieht. Wenn man
dem Wiesenweg, der an meinem Haus vorbeiführt, folgt, kommt man in einen riesigen Park mit
vielen Bäumen, Teichen, Biotopen und riesigen Blumenwiesen. Einer meiner Bekannten, ein
Gärtner, hat dort sogar sein Haus gebaut, um immer bei seinen Pflanzen zu sein. Du siehst also, wir
leben gemeinsam mit der Natur in unserer Stadt.
Schade, dass du das alles nicht selbst sehen kannst, doch auf die Zukunft kannst du dich nun freuen.
Liebe Grüße aus der Zukunft
Line