Deutschland: Zurzeit für viele Flüchtlinge das Land der Hoffnung, der Träume, des Friedens.
Ein Land mit Zukunft. Aber wie wird diese aussehen?
Sie steht vorm Spiegel, kämmt sich die dunklen Haare und bindet sie zu einem einfachen Zopf zusammen. Dann schlüpft sie in ihre Schuhe, zieht sich eine leichte Jacke über und verlässt die Wohnung.
Selma ist 34. Sie ist in München aufgewachsen, hat hier ihre ersten Schritte gemacht und ihre ersten Worte gesprochen. Ihre Mutter war aus Syrien geflohen, als sie mit Selma schwanger war. Einen Vater gab es nicht. Zwei Tatsachen, die Selma ihr Leben nicht immer leicht gemacht hatten. Von den Kindern in ihrem Wohnblock wurde sie oft geärgert. Sie nannten sie Bastard oder beschimpften sie als dumme Ausländerin. Ihre Klassenkameraden in der Schule hatten Angst vor ihr, weil sie anders war. Die Lehrer stempelten sie schnell als „hoffnungsloser Fall“ ab und unterstützten sie wenig, wenn sie Probleme hatte. Und Zuhause konnte sie auch keine Hilfe von ihrer Mutter erwarten, da diese selbst kaum Deutsch sprach. Folglich zog sich Selma immer mehr zurück, hatte keine Freunde, schlechte Noten, nur eine Mutter, die sie über alles liebte. Und von der sie über alles geliebt wurde.
Sie macht ihre Jacke zu, als sie über die Schwelle ins Freie tritt und ihr eine kalte Frühlingsbrise entgegenschlägt. Auf dem Gras liegen noch kleine Tauperlen von der Nacht, in denen das schwache Morgenlicht von der Sonne sich spiegelt. Seit dem Verbot von Autos innerhalb des Stadtgebietes ist es hier ziemlich ruhig. Während sie ihres Weges geht, kommt ihr lediglich eine Schülerin auf dem Fahrrad entgegen. Diese scheint verschlafen zu haben, denn es war bereits halb neun. Und wie auch bei Selma schon, geht die Schule immer um acht Uhr los. Sie schaut dem Mädchen hinterher und denkt an ihre Schulzeit zurück.
Wie es nicht anders zu erwarten war, viel ihr Übergangszeugnis miserabel aus. Sie schaffte es gerade noch auf eine Hauptschule. Dort lernte sie den ersten Menschen kennen, der sie unterstützte: Frau Kunz. Sie motivierte sie, half ihr bei den Hausaufgaben, unterhielt sich viel und oft mit ihr, wodurch Selma ihre Deutschkenntnisse verbessern konnte. Wenn man so wollte, war Frau Kunz in den kommenden fünf Jahren ihre einzige Freundin. Sie trafen sich nicht außerhalb der Schule, gingen nicht zusammen Kaffee trinken oder ins Kino oder etwas der gleichen, aber in den Pausen war Selma immer mit Frau Kunz unterwegs. Sie erzählte ihr Geschichten aus ihrer eigenen Kindheit, schön und behütet auf dem Bauernhof. Oder sie erklärte ihr noch einmal den aktuellen Stoff, sodass Selmas Noten stetig immer besser wurden.
Sie seufzt, wirft einen Blick auf ihre Uhr und geht weiter. Es sind nur ein paar hundert Meter zu ihrem Ziel. Sie genießt diesen kleinen morgendlichen Spaziergang immer. Seit dem „Grünen Projekt“ werden die Straßen von Bäumen gesäumt, die im Moment langsam anfangen Knospen zu schlagen. Es sieht wunderschön aus.
Sie kommt an einem Kindergarten vorbei. Sie hört durch den Garten die leisen Stimmen der Kleinen klingen, hört wie sie weinen und lachen.
Sie lächelt.
Als sie in der neunten, und damit der letzten Klasse der Hauptschule, war, kam das Unwetter. Sie hatten in der Schule darüber gesprochen, dass es einen Klimawandel geben würde und dieser schlimme Folgen haben könnte. Allerdings hatte Selma nicht damit gerechnet, dass so etwas in Deutschland passieren würde. Man hatte ihr gesagt, dass eher die Küstenzonen die betroffenen Gebiete sein würden. Man sagte ihr, in Deutschland sei die Wahrscheinlichkeit sehr gering.
Anscheinend nicht gering genug. Es passierte im Jahr 2030. Im April. Zuerst kam der Regen, dann der Sturm. Es gab unglaublich viele Überschwemmungen, nicht nur die Isar machte Probleme, auch kleinere Flüsse wie die Würm verursachten eine Menge Schaden. Häuser wurden überschwemmt, Brücken mitgerissen. Aber es war nur der Anfang. Es folgte der Sturm. Das Chaos war unvorstellbar. Bäume fielen um, Scheiben zerbarsten, Bahnhöfe stürzten ein. Es gab unzählige Opfer. Selmas Mutter war eine von ihnen.
Sie kann das graue Gebäude sehen, das in etwa so groß wie eine Telefonzelle ist. Bloß aus Eisen. Sie geht darauf zu und drückt auf einen viereckigen Knopf. Es fängt an zu rattern und innerhalb weniger Momente öffnen sich vor ihr die Türen des Aufzugs. Sie tritt ein und drückt „-1“. Kurz bevor die Türen schließen, huscht eine kleine Frau hinein. Sie lächelt zu Selma hinauf und sagt: „Guten Morgen, Madame!“
Ihre Mutter war querschnittgelähmt und konnte ihren Job als Putzfrau nicht wieder antreten. Sie wurde zum Pflegefall, konnte allerdings nicht lange im Krankenhaus bleiben, da dieses absolut überfüllt war. Also musste Selma sich um sie kümmern. Und das Geld verdienen. Sie ging Zeitungen austragen und räumte im Supermarkt Regale ein. Sie ging kaum noch zu Schule, sprach nicht mehr mit Frau Kunz. Es war, als wurde ihre Kindheit abrupt beendet. Am Ende des Jahres legte sie ihren Abschluss mit 3,4 ab.
Selma steigt in die U-Bahn ein. Zur Schule war sie früher immer Bus gefahren, aber es gibt keine Busse mehr. Genau so wenig wie S-Bahnen oder Tram Bahnen. Nach dem Sturm wurden sie nicht mehr aufgebaut. Nur die U-Bahnen wurden wieder aufgebaut. Und es wurden noch mehr gebaut. Man konnte überall hin fahren mit der U-Bahn. Das ganze Transportnetz spielte sich unter der Erde ab.
Nach einigen Minuten hielt die U-Bahn an, Selma stieg aus.
Nach einem Jahr Pause, in dem sie sich einzig und allein um ihre Mutter sorgte, erlag diese ihren Verletzungen. Selma kam ins Heim.
Sie steigt in den Aufzug und fährt hinauf. Die Sonne steht nun schon etwas höher und es weht kein kaltes Lüftchen mehr. Eigentlich ist es ein schöner Tag.
Hier ist sie verabredet, aber sie scheint die erste zu sein. Sie geht zu einem kleinen Zeitungskiosk und schaut sich um. Von allen Seiten springt ihr das aktuelle Datum entgegen:
*April 2050.*
In dem Moment spürt sie zwei Arme, die sie umdrehen, und einen Kuss, der ihr auf den Mund gedrückt wird. Sie lächelt in die strahlend grünen Augen ihres Mannes. Doch sie ist traurig.
„Es ist jetzt genau 20 Jahre her.“, flüstert sie. Er nickt.
„Ja, das stimmt.“, flüstert er und hebt ihr Kinn, sodass er ihr direkt in die Augen sehen kann.
„Aber das Unwetter hatte auch einen Vorteil: Es zeigte nicht nur Deutschland, sondern der ganzen Welt, wie Ernst die Sache war und immer noch ist. Das der Mensch aufhören muss, der Umwelt in diesem Ausmaß zu Schaden. Und es wurde radikal umgestellt: Autos wurden in der Stadt verboten, Busse abgeschafft, große Fabriken heruntergefahren. Strom wird in Deutschland nur noch aus Solaranlagen und Windkraftwerken gewonnen. Viele Bäume wurden gepflanzt, neue Lebensräume für Tiere geschaffen. Und es hatte noch einen Vorteil: Es hat die Menschen zusammengeschweißt. Alle. Denn jeder hat gelitten, oder jeder hat gekämpft. Womöglich hat Deutschland nur des Unglücks wegen eine Zukunft.“
Er sah auf ihren großen, kugelrunden Bauch und streichelte das tretende Wesen darin.
„Und dieses kleine Wunder auch.“
„Ja“, lächelt Selma, „Und trotzdem wäre es schöner gewesen, hätte es nicht erst soweit kommen müssen.“