Einziehen um auszusteigen – Leben im Ökodorf Sieben Linden
Ein Text von Friederike Teller
Immer lauter werden die Stimmen der Globalisierungskritiker und Umweltschützer. Die Probleme unserer kapitalistischen Gesellschaft sind ein großes Thema, nicht mehr nur bei Skeptikern. Ein Grund für die Bewohner des Ökodorfs „Sieben Linden“, eine ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltige Gemeinschaft aufzubauen. In Sachsen-Anhalt wollen sie nicht mehr nur kritisieren. Deshalb probieren sie seit 1997 eine alternative Lebensweise aus.
Wir halten uns fest an den Händen und sehen auf den leuchtend-bunt gedeckten Holztisch in unserer Mitte. Tief atme ich den würzigen Duft von Kürbis und Tomaten ein. Heute gibt es Tomatensuppe und Kürbisbrot, dazu viele Rohkostsalate. Alles vegan und glutenfrei, zubereitet von Stefan, der heute für das Kochen verantwortlich war. Später wird er mir erneut in einer anderen Funktion begegnen, denn hier sind alle für vieles verantwortlich. Dann wird es kurz still, das gehört zum Ritual des „Essenskreises“, der vor jeder gemeinsamen Mahlzeit stattfindet.
Schon als ich wenige Stunden zuvor den Feldweg nach Sieben Linden entlanglief, sah ich die Photovoltaikplatten auf den Dorfdächern am Waldrand in der Frühlingssonne glitzern. Ich fragte mich, wie ein alternatives Leben wohl aussehen mag, wie viel einer idealistischen Vision tatsächlich praktiziert werden kann. Sieben Linden liegt 70 Kilometer nördlich von Magdeburg und 1 Kilometer entfernt vom Nachbarort Poppau. In Sieben Linden sind Handys, Autos und Rauchen (außer in der Raucherecke) unerwünscht. So macht schon das Holzschild am Ortseingang klar, dass im Ökodorf eben auch besondere Regeln gelten.
Sieben Linden will neugierig machen auf praktizierte Nachhaltigkeit. Deshalb stellen die Bewohner regelmäßig ihre andere Art zu leben in Seminaren vor. Mischa ist dazu extra aus der Schweiz angereist. Seine tief grünen Augen sind von kleinen Lachfalten umgeben, die leicht zucken, während er mir von seiner geplanten Reise erzählt. Er hat seinen Job gekündigt und will nächstes Jahr im Sommer mit zwei Freunden losziehen. Sie wollen unterwegs sein und sich alternative Gemeinschaften ansehen. Ich höre ihm gespannt zu, und gerne würde ich ihn vieles fragen oder zumindest seinen Mut anerkennen. Doch das würde gegen die Regel verstoßen. Diese sind Teil der Übung, die sich A-B Gespräch nennt. „Was beschäftigt dich gerade?“ Diese Frage haben wir unserem Partner gestellt und dann ging es darum, acht Minuten einfach nur zuzuhören, ihn nicht vorschnell zu unterbrechen. Denn besonders Zuzuhören ist wichtig für eine gute Gemeinschaft, die in Sieben Linden einen sehr hohen Stellenwert hat. „Ich habe das Zelt schon bestellt“, erklärt Mischa voller Vorfreude, als der helle Klang der Zimbeln ertönt und das Ende der Übung verkündet.
Burn-Out, bevorstehende Rente, ein erlittener Schlaganfall. Es gibt viele Gründe, um nach Sieben Linden zu kommen. Alle, die während des Seminars Sieben Linden näher kennen lernen wollen, eint die Suche nach einer neuen Art und Weise zu leben. Gemeinschaftlich und am besten im Einklang mit der Natur. Denn die Gesellschaft da draußen sei aus der Balance gekommen und sie haben genug vom Höher-schneller-weiter-Denken, das ist Gruppenkonsens. Sie wollen von Sieben Linden lernen und vielleicht etwas von dem wiederfinden, was unsere Gesellschaft verloren hat. Doch wie viel Verzicht ist mit dem Leben im Ökodorf verbunden? Und ist es tatsächlich eine Alternative zu unserer globalisierten, kapitalistischen Gesellschaft? Ist es ein Ausstieg nach Sieben Linden zu ziehen? Oder ist es einfach nur ein anderer Ort zum Wohnen?
Abends funkelt es über mir. Es ist schon spät, als ich aus dem Seminargebäude auf den Dorfplatz trete. Sternbilder sind kaum noch zu erkennen, wie ein Silberteppich strahlen unzählbar viele Sterne über Sieben Linden, fern jeder Stadt. Ich bin nachdenklich. Fragen beantworten, das wollen die Sieben Lindner bei diesem Wochenendseminar. Konkrete Fragen, wie die nach der Ernährungsweise, der Lösung von Konflikten oder der rechtlichen Ausgangslage zur Gründung eines neuen Dorfes. All die Fragen, die der ersten Euphorie nachfolgen, eine mögliche alternative Lebensweise gefunden zu haben. Aber so viel ist sicher: Auch in Sieben Linden sind noch viele Fragen offen. Ich tapse aber erstmal durchs Dunkel zu meinem Bauwagen, der nicht abgeschlossen ist. Wie alle Türen hier.
Munter plaudern Mischa und die anderen Seminarteilnehmer am nächsten Morgen beim Frühstück über das erfrischende, aber anstrengende Morgenyoga, mit dem sie den Tag begonnen haben. Ich genieße mein Hafermüsli mit Sojamilch und setze mich meinen Kräutertee trinkend auf den sonnigen Balkon. Es schläft sich komfortabel im Bauwagen, sogar Internet gibt es und einen Wärme spendenden Kamin. Alternatives Leben mit Komfort. So richtig nach Ausstieg fühlt es sich nicht an.
Stefan, der Koch unseres ersten Abends, beginnt gleich nach dem Frühstück mit seiner Führung durch das Dorf mit ein paar allgemeinen Informationen. 80 Hektar Land, 140 Bewohner, mindestens. Davon ist ein Drittel Kinder – seit der vergangenen Nacht sogar eins mehr. Ein Sieben-Linden-Baby wurde geboren. Stefan strahlt. Alle siebzehn Seminarteilnehmer freuen sich mit ihm. Und so stapfen wir lächelnd los zur Expedition einer alternativen Gemeinschaft.
Zuerst geht es zum Bauwagenplatz der „Jungen Leute“, liebevoll JuLe genannt. Laut tönt der Bass aus der Gemeinschaftsküche, vorwiegend junge Leute, die ihr Freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ) hier absolvieren, wohnen hier. Die Kinder, die in Sieben Linden großgeworden sind, sind ausgeflogen in die weite Welt. Denn in Sieben Linden gibt es keinerlei Ausbildungs- oder Studienmöglichkeit.
Dann schlendern wir, umgeben von Holz und Maschinen, durch den Gewerbepark Sieben Lindens, in dem Tischler und Handwerker arbeiten. Dieser Bereich war wie alle Häuser in Sieben Linden von Anfang an fest im strengen Bebauungsplan vorgesehen. Dieser Plan legt auch fest, dass stetig mehr Häuser gebaut werden, und so die Bewohner der fast 50 Bauwagen allmählich in energiesparende und nachhaltig konzipierte Gebäude ziehen können. Momentan prägen aber noch die bunt-behangenen Bauwagen mit Wäscheleinen vor dem Fenstern das Bild Sieben Lindens.
Und dann stehen wir plötzlich auf einem großen Parkplatz. Am Ortseingang von Sieben Linden haben die Bewohner und Besucher ihre Autos abgestellt. Ein seltsamer Anblick in einem Ökodorf. Stefan erklärt, dass die Sieben Lindner ursprünglich mit Car-Sharing ihre flexible Mobilität sichern wollten. Doch viele Bewohner arbeiten außerhalb des Dorfes und müssen jeden Tag pendeln. Mit Car-Sharing funktioniert das nicht. Einige Bewohner arbeiten zwar auch im Dorf, in der Organisation von Seminaren, in der Verwaltung, im Gästebetrieb oder als Freischaffende mit ihren eigenen Unternehmen – zum Beispiel der Rohkostversand Sieben Linden „raw“. Doch nicht für alle besteht diese Möglichkeit und es ist wichtig, dass die Sieben Lindner arbeiten, denn das Leben hier ist nicht kostenlos. Das Thema Ökonomie ist wie überall auch im Ökodorf nicht einfach. Das liegt auch daran, weil die Initiativen einzelner Nachbarschaften eine Gemeinschaftskasse einzuführen beendet wurden und es momentan keine zukunftsweisende Idee für ein nachhaltigeres Finanzmodell gibt. Das bringt viele Schwierigkeiten mit sich, vor allem angesichts einer erforderlichen Rente für die Bewohner. Sieben Linden ist keine Insel, ist nicht sicher vor Eurokrisen und steigenden Lebensmittelpreisen. 24.000 Euro muss man deshalb beim Zuzug zahlen. Ein Teil geht an die Siedlungsgenossenschaft, der das Land gehört, der andere Teil an die Wohngenossenschaft, welche den Wohnraum stellt. Dazu kommen vergleichsweise geringe Lebenshaltungskosten mit Biovollverpflegung für etwa 500 Euro im Monat. Kinder werden solidarisch getragen.
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Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Wettbewerbes
„Es empfiehlt sich trotzdem, nur Teilzeit zu arbeiten“, erklärt Stefan, während wir an Gemüsebeeten und Obstbäumen entlanglaufen. Denn nur bei Teilzeit-Arbeit bleibt noch genug Zeit, sich in die Gemeinschaft einzubringen. Idealerweise soll jeder Sieben Lindner pro Woche 10 bis 15 Stunden für die Gemeinschaft arbeiten. Zum Beispiel bei Putzdiensten oder als Küchenhilfen. Doch auch die demokratischen Strukturen des Dorfes, wie die Arbeit in den Räten (für Themen wie Soziales oder Ernährung) und die regelmäßige Vollversammlung, brauchen die Zeit und die Initiative der Bewohner. Eine Zwei-Drittel-Mehrheit reicht dabei inzwischen aus, um Beschlüsse zu fassen. Von der anfänglichen Idee einer Konsensentscheidung ist man abgekommen, aufgrund der zunehmenden Dorfgröße. In Sieben Linden gibt es allerdings keine Kontrolle für geleistete Gemeinschaftsarbeit. „Jeder kann selbst entscheiden, wie viel er der Gemeinschaft gerade geben kann“, erläutert Stefan. Hier darf jeder Freiheit und Individualität leben.
Am Nachmittag besichtigen wir das spiralförmig gebaute Haus der Nachbarschaft „Brunnenwiese“. Dessen acht Bewohner treffen sich mindestens einmal die Woche zu einer Besprechung und teilen sich mit den anderen der zugehörigen drei Bauwagen außerdem Küche und Bad. Nachbarschaften wie die „Brunnenwiese“ gibt es in Sieben Linden einige. Diese Nachbarschaften sind die kleinen Gemeinschaften in der großen Dorfgemeinschaft. Jede Nachbarschaft unterscheidet sich in ihrer Art zu leben und ihrer Definition von Nachhaltigkeit. Bei manchen bildet die gemeinschaftliche Erziehung einen Schwerpunkt, andere versuchen möglichst wenige Ressourcen zu verbrauchen. Auch in Sieben Linden gibt es also ein breites Spektrum an Lebensweisen. Das schafft zwar viel Freiheit, aber so geht auch Konsequenz verloren – und Sieben Linden ähnelt inzwischen den traditionellen Dorfgemeinschaften.
„Das Dorf ist wie ein Schiff, ein eigener kleiner Kosmos, der funktionieren muss“, umschreibt Nepomuk die technischen und die alltäglichen Herausforderung. Eigentlich zog es ihn auf See, doch hier in Sieben Linden hat er neue Aufgaben gefunden; er kümmert sich um die technischen Kreisläufe, wie zum Beispiel um das Entsorgungssystem der Trenntoiletten und die Pflanzenkläranlage. Doch er merkt auch an, dass nicht die alternative Technik, sondern das Gemeinschaftliche dazu führt, dass Sieben Linden so gut da steht. Nur ein Drittel des Ökologischen Fußabdrucks hinterlässt ein Sieben Lindner im Vergleich zu einem Durchschnittsbürger. Die Pionierzeit ist trotzdem auch in Sieben Linden vorbei, jetzt wächst und verändert sich das Ökodorf langsamer. Und alles steht und fällt mit den Bewohnern.
Es ist Samstagabend. Und Samstagabend ist in Sieben Linden Kneipenzeit. In der Bar plaudern Sieben Lindner und Seminarteilnehmer. Doch ich ströme dem Bass im Nebenraum entgegen. Mit Socken auf dem Holzboden rutschend beginne ich zu tanzen. Völlig in Bewegung und Rhythmus verschmelze ich mit den anderen Tänzern und der Musik. Es ist egal ob Sieben Lindner oder Besucher, egal wie alt, egal wonach man sucht, egal was wir in der Welt verändern wollen oder was wir an ihr lieben. Jetzt tanzen wir einfach. Gemeinsam und doch jeder für sich, jeder wie er mag.
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Autorin / Autor: Text und Fotos von Friederike Teller