2050 – Ein ganz gewöhnlicher Tag
Einsendung zum Wettbewerb 2050 - Stadt meiner Träume von Miriam Wahler, 23 Jahre
Anja joggte wie jeden Morgen durch eine der zahlreichen künstlich angelegten Parkanlagen ihrer Heimatstadt. Den Landschaftsgärtnern gelang es aber, die Grünanlagen wie natürliche Wald-, Wiesen- und Seengebiete aussehen zu lassen, sodass man oft vergessen konnte, sich gerad mitten in einer Stadt zu befinden.
Nach ihrem Frühsport kehrte sie in ihr Zuhause zurück. Wie die meisten Menschen lebte Anja in einem Zweifamilienhaus. Isolierte Villen und anonyme Mietwohnungshochhausblöcke waren immer seltener in der Stadtlandschaft zu sehen. Ihre Studienfreundin begrüßte sie mit einem herzlichen Lächeln und frischgebackenen Pfannkuchen. Das ältere Ehepaar, das mit ihnen hier wohnte, saß erwartungsfroh am gedeckten Tisch. Der Sohn des Ehepaars und seine Frau waren schon bei der Arbeit. Ihre kleine schulpflichtige Tochter war aber noch da und spielte mit dem Besteck rum. Die bürgerliche Kleinfamilie war zu einer der seltensten Lebensformen geworden. Die weitverbreiteten Zweifamilienhäuser wurden überwiegend von Großfamilien, polygamen Ehen und Studentenkommunen bewohnt. Wenn jemand noch Platz in seinem Haus hatte, vermietete man oft einzelne Zimmer an Studenten, Senioren, deren Familien sich nicht um sie kümmern konnten, ledige Erwachsene und kinderlose Paare. So hatten auch Anja und ihre Kommilitonin Platz bei dieser Großfamilie bekommen.
Frischgestärkt machten sich Anja, ihre Studienkollegen und das kleine Mädchen auf zum Unterricht. Autos waren innerhalb von Städten unnötig geworden. Am Stadtrand gab es riesige Parkhäuser mit Leihautos, die man borgen durfte, wenn man eine andere Stadt besuchen wollte. Wer etwas nicht zu Fuß erreichen konnte, konnte auf eins der vielen E-Bikes zum Leihen zurückgreifen, die an jeder Straßenecke standen. Die Straßen für die Fahrräder waren schmäler geworden. Die Bürgersteige waren breiter geworden. Da das Bildungszentrum etwas weiter weg war, nahmen die beiden jungen Frauen zwei E-Bikes und einen Anhänger für das Mädchen und machten sich auf den Weg.
Im Bildungswesen wird nicht mehr zwischen Kindergarten, Grundschule, weiterführenden Schulformen und Hochschultypen unterschieden. Alle lernen voneinander und miteinander in sogenannten Bildungszentren. Die angebotenen Kurse sind in unterschiedliche Schwierigkeitsgrade und benötigte Vorkenntnisse unterteilt. Es wird nicht strikt zwischen Schülern und Lehrern beziehungsweise Dozenten unterteilt. In einem Bereich, in dem du dich nicht auskennst, kannst du einen Kurs als Schüler besuchen. Deinen Fähigkeiten entsprechend kannst du aber gleichzeitig einen anderen Kurs selbst geben oder zumindest mit einem Vortrag bereichern. Es gibt keine festen Lehrpläne. Der Lehrstoff wird aus den Interessen und Kompetenzen der Nutzer des Bildungszentrums heraus entwickelt. Anja belegte einen Chemie-Kurs auf Gymnasialniveau, einen Literaturkurs auf Hochschulniveau und leitete selbst einen Theaterkurs für Grundschüler. Der Bildungs- und Entwicklungsprozess der Nutzer des Bildungszentrums wird stärker betreut als früher. Es gibt viele Berater, die einen dabei begleiteten, die richtigen Kurse für einen zu finden, und nach den Talenten jedes Einzelnen schauten, um zu überlegen, welche Kurse er anbieten könnte.
Um sich vom anstrengenden Tag zu erholen, besuchte Anja im Anschluss ein sogenanntes Freizeitzentrum. Freizeitzentren decken die Wünsche ab, die früher von Jugendhäusern, Mehrgenerationenhäusern, Kunstschulen, Sportvereinen und religiösen Gemeinden bedient wurden. Freizeitzentren fördern den Austausch zwischen verschieden interessierten Menschen und den Zusammenhalt innerhalb einer Stadt und verhindern Marginalisierungen und Subkulturbildungen. Anja nimmt an einer Tanzgruppe des Freizeitzentrums teil. Alle sind sehr aufgeregt, denn als übergreifendes Projekt zusammen mit der Schauspielgruppe und der Gesangsgruppe möchten sie ein Musical auf die Beine stellen. Vom Tanzen ausgepowert erholt sich Anja im Anschluss noch ein bisschen im Gemeinschaftsraum des Freizeitzentrums auf, indem sich eine Kaffeebar und eine Gemeinschaftsküche befinden. Parallel zur Tanzgruppe fand in einem anderen Raum des Freizeitzentrums ein gemeinschaftlicher Gottesdienst aller monotheistischen Religionen statt. Ein paar der Gläubigen blieben auch noch etwas im Gemeinschaftsraum. Anja führte ein anregendes Gespräch mit einem Muslim an der Kaffeebar. Spontan entschieden sich ein paar der Anwesenden gemeinsam zu kochen. Anja spielte mit den Kindern aus der Kinderkirche, während andere in Ruhe kochten. Mit viel Gelächter aßen alle zusammen.
Dann machte sich Anja zu Fuß auf den Heimweg. Ohne Zeitdruck genoss sie gerne die Lebendigkeit ihrer Innenstadt. Das Innenstadtsterben war eine unvorstellbare Anekdote der Geschichte für sie. Die breiten Bürgersteige wurden rege genutzt: Überall standen Stühle vor den Häusern, egal ob Privathäuser oder Gastronomie. Da saßen die Menschen gemütlich beisammen und plauderten. Manche machten auch Musik zusammen. Anja blieb immer mal wieder stehen, um mit jemandem zu reden oder Gitarrenklängen und Musik zu lauschen.
Zu Hause angekommen, sah sie, dass alle aus der Hausgemeinschaft von ihrem Tagwerk heimgekehrt waren. Sie setzten sich alle ins Wohnzimmer und erzählten einander von ihrem Tag. Die beiden jungen Frauen und das kleine Mädchen berichteten, was sie heute gelernt haben. Die Frau erzählte von ihrer Arbeit im Modeeinzelhandel und der Mann von seiner Stelle in der Computerbranche. Das alte Ehepaar hatte den Tag genutzt, um frische Lebensmittel einkaufen zu gehen und staubzusaugen. Sie zählten auf, was sie geholt hatten und überlegten gemeinsam, was sie kochen könnten. Anja bot sich an, morgen das Kochen zu übernehmen. Sie redeten noch eine Weile darüber, wie schön es ist, dass sie Arbeit in ihrem Wohnort haben und das alles hier produziert und verkauft wird.
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Autorin / Autor: von Miriam Wahler, 23 Jahre