Dies- und Jenseits der (Un)Wirtlichkeit

Einsendung zum Wettbewerb 2050 - Stadt meiner Träume von India, 14 Jahre

Willensstark waren meine Eltern nie, doch ihre Schwäche war auch meine. Mein Leben lang mäanderte diese Unentschlossenheit in den notwendigen Entscheidungen, die mir das Leben abverlangte. Am Anfang nur die Auswahl der Freundin im Sandkasten, dann die Fragen nach der Länge meiner Haare, der Anzahl der Samenkörnchen in der frisch geharkten Beetfurche. Ich auf Elternaugenhöhe, auch wenn ich mich dafür auf den Küchenstuhl stellen musste. Sie kamen mir stets entgegen. Ein paar Jahre später dann der erste Freund. Die falsche Wahl, der Gebrauch meines Verstandes außer Kraft gesetzt, nur Schmetterlinge im Bauch. Ich wog verschiedene Alternativen ab, überlegte und überlegte zweimal zuviel, das Ende kam schnell. Wachte auf und lernte ja und nein zu sagen. Ja und nein.

Nein!
Doch! Aber natürlich!


20.15 Uhr, Bühnenhaus „Traumpalast“. Eine Baracke für Kleinkunst, der zerfetzte Vorhang Kult, Graffiti an den Klotüren. Es roch hier schon immer nach abgestandenem Bier. Auf der Theke steht ein Ghetto-Blaster und ab und zu bringt die goldene Gabel auch meine Traumblätter zum Schwingen. Traumzauberbaum und von der Decke hängt seit letztem Jahr ein großer Drache aus Pappmaché, vom wöchentlichen Kinderkreis unserer Siedlung gebastelt.

Nein! Es wird ein großes Projekt.

Der Mann am Podium trägt Wolle, der beigefarbene Schlips filzt am Sakko fest. Seine Hände malen Zeichen in die Luft, er ist aufgeregt vom Adrenalin und sein Laserpointer huscht über die Wand, sticht in Grafiken, betont Statistiken und umrandet Baupläne.

20.30 Uhr, „Traumpalast“ im Gleisdreieck Nord unserer Stadt. Ein Gebiet so groß wie zwei Fußballstadien, früh vergessene Restfläche, eingeklemmt zwischen alten Gründerzeitvierteln, Rieselfeldern der städtischen Abwasserentsorgung und dem Industriegebiet. Aber abgedrängt vom modernen Herzschlag der Stadt, vom Zentrum, dort heult der Verkehr in den Hauptstraßen. Am Tag spiegelt die Sonne große Glasflächen und in der Nacht pulsiert Neon auf Bildern. Light my fire. Die Stadt ist die Droge für alle, die hier kreiseln, Massen von Süchtigen auf dem urbanen Trip und der Grund für mich, im Gleisdreieck zu wohnen.

Zunächst aber: Projekt Stadtumbau 2050. Demografischer Wandel und Bevölkerungszuzug in der Zukunft. Daher notwendig: Aufwertung der Peripherie. Personennahverkehrsanbindung an das Stadtzentrum. Ganzheitliche Entwicklung für alle durch Vereinheitlichung technischer und sozialer Binnenräume unserer Stadt.

Der Mann in Wolle referiert ins Mikrofon, er ist von der Stadtplanung, in seinem Aktionsradius Assistentin und Amtsleiter, alle bürokostümiert. Neben mir sitzt Tante Uschi, die hier jeder kennt. Die seit mehreren Jahren im gelben Bauwagen an der Ecke lebt und auch heute ihre drei Taschen mit Pfandflaschen dabei hat, die sie dem Vordermann in die Fersen schiebt. Margrit, die früher Jürgen hieß und die Kunstwerkstatt leitet, Horst, Lazlo, Judith und unser persischer Poet Sahim, der Öko-Falafel verkauft und jetzt dichtet. Alle sind hier. Die Siedlungsgenossenschaft ist komplett.

Wie soll das gehen? … indem unser Zuhause abgerissen wird, unsere Laubensiedlung, alles, was wir aufgebaut haben? Entgegen unseren Wünschen? Geht’s noch?

20.45 Uhr, „Traumpalast“. Der Stadtplaner redet. Zwischenrufe. Der Stadtplaner palavert im Kreis. Das treibt den Blutdruck hoch, davon das rote Gesicht. Die Assistentin zerbeißt sich die Lippen, der Amtsleiter sauerstoffsüchtig aschfahl. Bürgerfragestunden bei uns im Gleisdreieck Nord sind immer schwierig. Unsere Stadt 2050. Niedrigenergiehäuser und Stromerzeugung aus Sonnenkraft, jedes Haus mit autarker Versorgung. Erneuerbare Energien – Solar- und Erdwärme sichern das Leben. Die Straßen sind Spielstraßen, Kinder überall, die das Straßenpflaster mit Kreide beleben. Versiegelten Boden gibt es nur noch im Fundament, damit das Regenwasser versickern kann. Blühende Blumen auf den Rabatten und Kräuterhochbeete für die Senioren im Rollstuhl, die sich an der Pflege beteiligen. Barrierefreiheit überall, ob mit Kinderwagen oder Rollator, dem Zusammenkommen in Haus und Hof sind keine Grenzen gesetzt. Dazu städtische Kindergärten ohne Warte- dafür mit Öffnungszeiten bis spät in die Nacht. Räumlich getrennte Stadteile mit unterschiedlichen...

Milieus, so sagen wir dazu, wird es nicht mehr geben. Maximal fünf Stockwerke, soziale Durchmischung. Neue Familien werden hierherziehen. Und es werden Einkaufsläden gebaut. Eine ganze Einkaufspassage mit noch größerem Warenangebot. Alles vor Ort. Kurze Wege.

21.00 Uhr, „Traumpalast“. Die Handflächen gekrümmt, als locke er mit einem goldenen Apfel, ringt der Stadtplaner um Argumente, ringt mit uns.
Ich überlege keine Sekunde, ja oder nein. Ja. Springe auf, klare Entscheidung, das Gleisdreieck braucht keine Shoppingpassagen. Wir haben Restaurants. Inder, Griechen, Afrikaner, Russen, haben eine Töpferwerkstatt, die eigenorganisierte Kinderhütte „Regentropfen“…

Städte müssen bunt sein. Farbkleckse auf den Straßen, Kunst. Überall bunte Fahnen und Tücher, quer von einer Hauswand zur anderen gespannt. Lebendiges Durcheinander, überall der Geruch exotischen Essens, in den Hauseingängen der Geruch von Räucherstäbchen. Graffitis an den Mauern, verschlungene Bilder, in sich verwobene Schriften, Muster und auslaufende Farben. Ich mag Litfaßsäulen, aber keine arroganten Werbetafeln. Plakate von Konzerten und Theateraufführungen – Performance auf der Straße. Aufrufe gegen Massentierhaltung, für den Umweltschutz und zum vegetarischen Leben. Räume zum Diskutieren. Und zum Träumen. Und zum Selbstverwirklichen.

Der Stadtplaner holt Luft, erzählt von gigabyteschnellen Internetverbindungen, dem Arbeiten von zu Hause, chipgesteuerten Funktionen.

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Aus der Cloud vernimmt die Redakteurin des Regionalsenders ein Rauschen. Sie speichert den geschnittenen Film. Computer, Cuttertisch-sie stellt den Strom ab. Der Bildschirm wird schwarz.
Blickt aus dem Fenster des Redaktionsraumes.
Rechts die neuen Wohnbauten. Familienfreundlich. Verkehrsberuhigt. Energieeffizient. Nahe Büroräume.
Links die Rieselfelder, seit einigen Jahren Pflückoasen – Selbstbedienungsobstgärten.
In der Mitte das ehemalige Gleisdreieck Nord.
Sieht bunte Plakate, Kreidestriche auf dem Pflaster, den Solisten im Hauseingang gegenüber.
Nimmt die Einladungskarte 2050 – 75 Jahre Bühnenhaus „Traumpalast“ in die Hand.

Sie freut sich auf den Abend.

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Autorin / Autor: von India, 14 Jahre