Als ich aus dem Fenster blickte, wusste ich immer noch nicht, wieso ich das hier getan habe. Die vom Herbst gezeichneten Bäume zogen mit einer Geschwindigkeit an mir vorbei, bei der mir übel wurde.
Ich warf einen flüchtigen Blick auf die glänzende Broschüre, die auf meinem Schoß lag. Mein erster Instinkt war es die Broschüre aufzuklappen, schnell verwarf ich den Gedanken aber wieder und wie von selbst strichen meine zittrigen Fingern über die pechschwarze Überschrift. NEOPOLIS.
Es kam mir vor, als sei es erst gestern gewesen, dass Abgesandte der Regierung im Türrahmen meines Klassenzimmers standen und mich als einzigen nach draußen baten. Vor der Tür erklärten sie mir, dass ich durch Zufall für ein Staatsprojekt als Teilnehmer ausgewählt wurde. Die nächsten Wochen waren voll von Arztterminen, Treffen mit meinem Psychologen und Konditionstraining. Mir ist von vorn herein bewusst gewesen, dass ich in die "neue Stadt" ziehen sollte, aber bis jetzt hatte ich noch keinen blassen Schimmer, wie diese aussehen sollte.
Dann überwand ich mich dazu, die Broschüre zu öffnen.
Auf dem Foto sah ich eine helle Gasse, die vor einem riesigen Marmorgebäude endete, aus dem, zu meiner Verwunderung, ein gigantischer Baum hervorragte.
"Entdecke die erste ökologische und zugleich hochmoderne Stadt der Welt. Sei einer der ersten, die die Zukunft der Menschheit schon heute zu Gesicht bekommen.
Wohne in solarbetriebenen Neubauten, die deinen individuellen Bedürfnissen angepasst sind, aber auch Spielraum für eigene Änderungen lassen.
Lerne in einem noch nie dagewesenen Schul- und Univeritätssystem, abgestimmt auf die eigenen Kompetenzen, oder entdecke die Arbeitswelt in den Bereichen: Forschung /Naturwissenschaften, Philologie, Rhetorik und Kulturwissenschaften, darstellende Künste.
Finde dich mit deinen Mitmenschen und helft gemeinsam die Gesellschaft zu verbessern.
Wir freuen uns darauf, dich als Teilnehmer begrüßen zu dürfen.
- ecoFuture"
Noch bevor ich die neuen Informationen überhaupt verarbeiten konnte, ertönte eine Ansage des Zugfahrers, die verkündete, dass wir gleich in den Hauptbahnhof einfahren würden. Also schwang ich mir meinen Rucksack über die Schulter und ging zur Tür. Diese öffnete sich automatisch und plötzlich stand ich in einem kleinen Vorraum vor geschätzt zehn Leuten unterschiedlichen Alters. Aber noch bevor ich alle ausgiebig mustern konnte, ging auch schon die silbern glänzende Zugtür auf und der erste, ein blonder Mann mitte zwanzig, stieg aus, als wäre es das Normalste auf der Welt in eine unbekannte Stadt, in der noch keiner zuvor gewesen ist, zu betreten.
Nach einander stiegen auch die anderen aus, ich kam zum Schluss. Der lichtdurchflutete Bahnhof war locker zwanzig Meter hoch, beherbergte aber nicht mehr als drei silberne Züge. Schnell wurde ich aus dem Staunen gerissen, als eine junge Frauenstimme zu unsere Rechten zu sprechen begann. "Willkommen in Neopolis. Ich bin Tessa und werde euch heute durch die Stadt führen. Bitte folgt mir." Geordnet gingen wir zu einem Aufzug. "Wem schnell übel wird, der nehme sich bitte eine der vorbereiteten Tüten", sie deutete auf einen Stapel an der Aufzugswand befestigten Papiertüten. Im Aufzug war Platz für alle von uns. Tessa holte einen kleinen Schlüsselbund aus ihrer Tasche und steckte einen Schlüssel in das in der Wand eingelassene Schlüsselloch. Als die Türen sich langsam schlossen, hatte ich plötzlich ein mulmiges Gefühl. Noch bevor der Aufzug sich in Bewegung setzte, hatte ich schon zwei Papiertüten in der Hand. Und dann schossen wir in die Höhe.
Oben angekommen, standen wir neben dem gigantischen Gebäude aus der Broschüre. Wir stiegen aus dem Aufzug und wurden direkt von Tessa in das, nach ihrer Beschreibung nach, "Rathaus" geführt. Woah. Ich wusste nicht wieso, aber aus dem Boden, direkt neben zwei Schreibtischen ragte der Baumstamm zur draußen sichtbaren Baumkrone hervor. "Da vorne", begann Tessa, "befindet sich das mentale Herz unserer Stadt, wo ihr euer spirituelles Dasein ausleben könnt. Er ist von jedem Punkt der Stadt aus sichtbar. Neopolis ist in acht Wohnviertel geteilt. Euer Wohnort wird an eure Interessen angepasst, indem sich eure Wohnung in der Nähe der jeweiligen Zentren, Handwerk/Technik, Sprachen, Naturwissenschaft/Forschung/Medizin, Sport, Gesellschaftswissenschaften und Künste, befindet. Hier, im Zentrum, findet man, neben dem Rathaus, auch die Polizei, Feuerwehr und das Lager, in welchem ihr eure auf euch abgestimmten Lebensmittel und Kleidungsstücke abholen könnt. Sollte euch noch etwas fehlen, meldet es bitte schleunigst im Rathaus, damit wir es euch so schnell wie möglich zur Verfügung stellen können. Zudem befinden sich in jedem Viertel zwei Notkrankenhäuser. Für längere Aufenthalte ist aber das Krankenhaus im Zentrum "Medizin" zuständig. Autos werden hier nicht benutzt, solltet ihr also eurer Ziel zu Fuß nicht erreichen können, wird euch ein Fahrrad zur Verfügung gestellt, welches ihr vor euren Wohnungen finden werdet. Durch einen Test werden wir gleich bestimmen können, welche Wohnungsart euch am besten zusagt. Jedem Neopolitaner steht, neben der selben Quadratmeteranzahl, eine professionelle Beratung im Falle von Druck oder Verlusten und die Teilnahme an Arbeitsgemeinschaften zu." Ich war erleichtert als Tessa endlich ihren Monolog beendete und uns die Möglichkeit gab, alles zu verarbeiten. Hier sollte ich also mein nächstes Jahr verbringen. Wahrscheinlich würde ich hier noch volljährig werden. Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als eine andere Mitarbeiterin jedem jeweils eine Glasscheibe überreichte. "Drückt bitte mit eurem Daumen in die Mitte der Glasscheibe.", ordnete die Frau an. Nachdem ich den Anweisungen gefolgt bin, erschienen zugleich alle meine persönlichen Daten, Name, Alter, etc., in blauer Schrift auf der Scheibe. "Nun können wir mit den Tests beginnen."
Verdammt, das hier passiert wirklich.