Eichenherz

Einsendung zum Wettbewerb 2050 - Stadt meiner Träume von Sophia Katharina, 18 Jahre

Als ich zum ersten Mal unbeholfen und ungeschützt meinen Kopf zwischen den Erdbrocken hindurch gebahnt hatte, das gleisende Sonnenlicht auf dem Kopf, hatte ich nicht schlecht gestaunt. Vor lauter Verwunderung waren mir sogar meine Wurzeln fast verheddert und ich wäre wieder umgeknickt!  Doch das unterbewusste Wissen über die gefährliche Umgebung hatte mich wieder in die Senkrechte versteift. 
Die Welt war wunderschön. 
-  Tödlich, aber dennoch von einer herrlichen Frische, gemalt mit einer breiten Palette aus kräftigen Farben, und durchflochten von pulsierendem Leben. Neben mir kämpften sich andere Keimlinge den Platz ans Licht, klein und zerbrechlich, und sicherlich genauso benebelt von der plötzlichen Veränderung wie ich es war. Das war sie also nun, die große Welt, deren dunklem Schoß ich entsprungen war.
Ich lernte sie zu lieben und auch zu respektieren, lernte die Freuden des schönen Frühlingstages wie auch den langen Kampf mit dem sommerlichen Durst kennen. Und während ich mit Fleiß und Glück an Größe und Alter gewann, lernte ich auch den Menschen kennen.
Eigentlich war er schon immer da gewesen. Der Garten, in dem ich lebte, schien ihnen zu gehören, das große Gebäude gegenüber, die graue Straße, die stinkenden Autos darauf. Anfangs dachte ich, sie wären wie ich ganz neu an der Oberfläche, so, wie sie sich immer nur zu Sonnenschein aus ihren Häusern wagten, aber bald erkannte ich, dass der Mensch sich schlichtweg einfach den Gesetzen der Natur sträubte. Oder es zumindest versuchte. Denn die stetige Veränderung konnte ich mir nicht anders erklären.
So war der Mensch zum Beispiel, als ich nach hunderten von Sommern und Wintern stark und kräftig in den Himmel ragte, dem Gegenteil gefolgt! Die zuvor immer höher und höher gebauten Türme waren verschwunden, und der Boden war tapeziert mit grauen, schmalen Schachtdeckeln.
Meinen Wurzeln verpassten sie eine schöne Massage, wenn die unterirdischen Gebäude ihre Vibrationen diffundierten. Wie viele Menschen es waren? – Unzählige! Aber an die Oberfläche kamen sie nun umso seltener. Sie hatten ihre Glühlampen weiterentwickelt zu kleinen Leuchten, die das Sonnenlicht speicherten und in ihren Wohnungen unter der Erde wieder freigaben. Mithilfe der Erdwärme schützten sie sich vor dem Winter und auch ihren Wasserzugang hatten sie bis in die düstersten Tiefen gegraben. Sauerstoff erzeugten sie künstlich. 
Wo früher sich Nachbarn mit den schönsten Bäumchen im Vorgarten zu übertrumpfen versucht hatten, stand nur noch ich und die kleine Tanne zehn Meter entfernt. Alle anderen Bäumchen waren tot. Schuld daran waren jedoch ausnahmsweise nicht die Menschen. Die Erde hatte sich verändert, der Boden war immer sandiger geworden, immer unfruchtbarer, die Winde beißender, der Niederschlag härter. Ich muss sogar zugeben, dass ich ohne die Menschen vermutlich nicht überlebt hätte! Aus irgendeinem Grund hatten sie  um mich herum einen kleinen Zaun errichtet, kamen regelmäßig aus dem Untergrund hervor um mich zu bewässern und kümmerten sich sogar um fruchtbare Nährstoffe!
Ansonsten sah ich die Menschen, wenn sie zur Arbeit auf ihren Feldern marschierten. Denn während das Erdreich nun dicht durchlöchert war, nutzten sie die Fläche an der Sonne für ihre Anbauplantagen. Seltsame Früchte, die sie selbst gezüchtet hatten, die auf dreistöckigen Äckern im Akkordtempo auf künstlichem knetmasseartigen Boden wuchsen und mithilfe von langen Spiegelreihen beleuchtet wurden. Wenn sie dann ihre Ernte dreimal jährlich einholten, verarbeiteten sie das gleich weiter zu einem seltsamen Brei, den sie wiederum in riesige Tanks einfüllten. Er enthielt anscheinend alle lebensnotwendigen Nährstoffe und floss in jedem Haushalt aus dem rechten Waschbeckenhahn (der linke war nach wie vor für Wasser).  Einerseits langweilte mich die Entwicklung, andererseits erlebte ich durch die Menschen auch viele interessante Dinge.
Hatten sie das Alter von 109 Jahren erreicht, dann kamen sie aus ihren Schächten geklettert  und zogen ein langes Seil hinter sich her. Genau dreimal schlangen sie es um meinen Arm, knüpften eine Schlaufe ans eine Ende und ohne ein Wort zu verlieren steckten sie ihren Kopf hindurch und zogen die Beine an. Anfangs hatte ich über ihre Dummheit geschmunzelt, über den Rückfall ihrer Kultur zurück ins Mittelalter, bis mir aufgefallen war, dass sie sich alle freiwillig das Leben nahmen. Ihre Asche düngte die Äcker.

Inzwischen bin ich der letzte überlebende Baum. Soweit ich sehen kann erstreckt sich öde Wüste, und Sandstürme haben meiner Rinde sehr zugesetzt. Von den Menschen kommt niemand, um mich zu pflegen, das können sie nicht mehr.  Ich bin alt geworden. Werde schon fast sentimental.
Auf meinen Wurzeln glänzen die weißen Knochen im braunen Sonnenlicht. Ich halte sie alle auf mir fest, und fühle das Netzwerk des Lebens pulsieren. Menschen werden nicht mehr geboren, nicht mehr physisch zumindest. Sie haben die Verknüpfung ihrer Geister erreicht, sie leben nicht länger nach Mutter Natur. Sie haben sich so lange gegen die Gesetze gesträubt, bis sie einen Ausweg gefunden haben. Wo genau sie sind? Was genau sie jetzt sind?
Ich fühle meine Äste schwächer werden.
Ein Netzwerk aus Gedanken, nicht sichtbar für mich, nicht sichtbar für diese sterbende Welt.  Tote Knochen, in denen das Leben weiterglüht, auf der Ebene des Glücks.
Die letzte Stadt der Menschen unter meinem kahlen Haupt.

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Autorin / Autor: Sophia Katharina, 18 Jahre