Hör auf zu träumen

Einsendung zum Wettbewerb 2050 - Stadt meiner Träume von Matilda, 13 Jahre

„Hör auf zu träumen, Martha. Ich will nicht, dass du auch noch springst. Du würdest nur im Weg rumliegen.“
„Ich auch noch?“
„Ja, David der Träumer ist letztens gesprungen. Übliche Stelle, Oberbaumbrücke. Nur ein Körper mehr im Massengraben.“
„Im Massengraben?“
„War früher die Spree. Ist jetzt ausgetrocknet, das Wasser wurde abgedreht.“
„Abgedreht?“
„Die wollen das Wasser für sich. Sie haben es in die Obergebiete umgeleitet.“
„Die Obergebiete?“
„Herrgott nochmal, was fragst du denn so doof? Ja, die Obergebiete, die Reichengebiete. Die reichen Teile der Welt, verstehst du? Hey, ich hab doch gesagt: Hör auf zu träumen!“
„Wollen Sie nicht träumen?“
„Träumen ist gefährlich. Für dich und für alle in deiner Umgebung.“
„Träumen macht das Leben schöner! Es bringt Hoffnung!“
„Träumen verblendet dich. Du lebst nur noch im Traum. Du hoffst. Und dann wirst du geweckt. Und das zerstört dich. Träumen ist nur ein anderes Wort für Verdrängung. Verdrängung der Wirklichkeit.“
„Sie hoffen also nicht?“
„Auf was?“
„Bessere Zeiten. Ein besseres Leben.“
„Nein.“

„Erzählen Sie mir von früher.“
„Früher? Früher gab es Wasser. Es gab Strom. Essen. Schulen. Kinder. Ja, früher gab es auch Liebe. Hoffnung. Glück. Ja, früher, Martha, früher gab es Leben.“
„Gab es früher keinen Krieg?“
„Doch, das gab es. Schlimmen Krieg, viel Gewalt, Hungersnöte und andere schlimme Dinge.“
„Warum haben Sie davon nichts gesagt, als ich Sie nach früher gefragt habe?“
„Weil... weil ich daran nicht denken wollte.“
„Weil Sie lieber von früher träumen wollten?“

„Erzählen Sie mir von heute.“
„Du weißt doch, wie es heute ist.“
„Erzählen Sie mir trotzdem davon!“
„Heute ist die Welt zerstört. Die Menschen haben sie mit ihren kleinen, spitzen Zähnen zerfressen.“
„Mit ihren Zähnen zerfressen?“
„Mit ihren Kriegszähnen! Und mit ihren Gewaltfüßen sind sie auf ihr rumgetrampelt!“
„Warum?“
„Weil die Menschen schlecht sind!“
„Das stimmt nicht! Nicht alle Menschen sind schlecht!“
„Das ist auch eine Nebenwirkung von Träumen. Du hälst die Menschen für gut. Aber wir sind alle schlecht.“
„Wir?“
„Ja! Oder bist du etwa kein Mensch?“
„Doch, aber... Sie und ich, wir sind doch nicht schlecht!“
„Du willst mir erzählen, ich sei nicht schlecht? Gestern erst hab ich einem toten Kind, das auf der Straße lag, ein Brot aus der Tasche geklaut. Es war zwar angebissen und ein bisschen verschimmelt, aber immer noch genießbar. Und du? Hältst du dich für gut?“
„Es gibt nicht immer nur gut und schlecht, schwarz und weiß. Es gibt viele Schattierungen.“
„Das war vielleicht früher so. Aber heutzutage gibt es nur noch schwarz.“

„Erzählen Sie mir von hier.“
„Von hier?“
„Ja! Wie ist es hier so geworden?“
„Das ist schwer zu verstehen.“
„Dann erklären Sie es mir so, dass es leicht zu verstehen ist.“
„Also gut. Früher gab es Länder. Das waren Gebiete, in denen eine bestimmte Sprache gesprochen wurde und es eine bestimmte Kultur gab. Jedes Land hatte einen oder mehrere Anführer. Die Menschen dachten, sie wären nur in ihrem Gebiet zu Hause. Wenn sie in ein anderes Gebiet fuhren, waren sie so genannte Ausländer. Die Gebiete hatten festgesetzte Grenzen. Und wegen diesen Grenzen gab es Krieg. Überall auf der Welt. Wegen diesen Grenzen, wegen Religion, wegen Macht und wegen Geld.“
„Was ist Religion?“
„Religion ist etwas, an das du glaubst. Früher gab es drei große Religionen und mehrere kleine Religionen. Die Anhänger dieser Religionen glaubten im Grunde genommen alle an dasselbe. Sie glaubten an Götter.“
„Was ist ein Gott?“
„Ein Gott ist etwas, dass dir Kraft gibt. Etwas, das dir in schweren Zeiten hilft. Einige Leute nennen das nicht Gott, sondern irgendwie anders.“
„Also ist Gott eine Art Traum!“
„Das hätte die Menschen damals sehr wütend gemacht, aber ja, wenn du willst, dann ist das so. Das kannst für dich entscheiden.“
„Haben Sie einen Gott?“
„Nein, Götter sind ausgestorben. Denn wenn es Gott gibt, gibt es Hoffnung.“
„Aber dann sind Götter ja doch nicht ausgestorben, denn ich habe Hoffnung.“
„Du bist ja auch ein Träumer. Schau dir den Massengraben an, dann sag mir, ob es noch Götter gibt.“
„Erzählen Sie weiter. Was ist Macht?“
„Macht... Das ist für viele verschieden. Aber für viele Menschen ist Macht, etwas zu besitzen. So wie für die Menschen damals. Sie führten Kriege, die langsam, aber sicher alle Länder zerstörten. Das war einerseits gut so, andererseits zerstörte es alles. Schau dir das hier an! Die Straßen sind voller Schlamm. Keine Bäume, keine Pflanzen, noch nicht einmal Unkraut. Es gibt keine Häuser, nur noch Ruinen. Jeden Tag verhungern hunderte von Menschen, wenn sie nicht von der Brücke springen oder erstochen werden. Die Menschen haben keine Kraft mehr, die Leichen weg zu räumen. Kinder werden auf der Straße ausgesetzt, es gibt keine Familien mehr. Das hier ist kein Leben!“
„Was ist es dann?“
„Das weiß ich nicht.“

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Autorin / Autor: Matilda, 13 Jahre