„Naja, das hätte ich euch schon im Voraus sagen können.“
Während meine Oma das murmelt, verschränkt sie ihre Hände vor der Brust. Meine Oma meint, immer alles schon gewusst zu haben, dank einer unermesslichen Fassungsgabe, derer sie sich seit sie denken kann erfreut. Diese ermöglicht es ihr, die Welt zu verstehen, ohne rege daran teilzunehmen. „Ich gehe jeden Tag einkaufen, spaziere in die Stadt hinunter, setze mich zuweilen auf eine Bank und wandere dann wieder nachhause. Das genügt mir vollkommen“, pflegt sie mit einem Zwinkern zu sagen, von dem ich nicht weiss, ob es schelmisch eingesetzt oder ein unkontrolliertes Zucken oder am Ende beides ist, was ihr durchaus zuzutrauen wäre. Meine Oma wohnt auf dem Hügel ausserhalb der Stadt und obschon die Strassenbahnen alle acht Minuten in die Aussenorte fahren, radle ich lieber zu ihr. Ich gehöre zu jener raren Spezies, die noch immer kein E-Bike besitzt. Ich mag es, leicht verschwitzt bei Oma anzukommen und ein Glas kühlen Pfefferminztee zu trinken, der nirgends so gut schmeckt, wie bei ihr.
Das Ärgerlichste an Omas Einbildung, immer schon alles gewusst zu haben, ist, dass sie damit gar nicht so Unrecht zu haben scheint. Heute habe ich ihr von unseren Ergebnissen der Zwischenarbeit berichtet. Seit drei Jahren führt man im vierten Semester des Soziologiestudiums eine qualitative Untersuchung in einem Vierer-Team durch, mit dem Ziel, neben der methodischen Praxis, den Austausch unter den Studierenden zu fördern. Man möchte mit dieser Massnahme den Kommunikationsslots, die unter den Online-Studierenden zunehmen, entgegenwirken. Wir haben das Befinden von jungen Müttern untersucht.
„Schlecht, geht es ihnen. Sofern es sie überhaupt noch gibt. Sie fühlen sich isoliert, verkannt, minderwertig, gleichzeitig unter- und überfordert und was sonst alles eben noch so dazugehört“, habe ich unsere Ergebnisse zusammengefasst.
„Tja, wie vor sechzig Jahren“, hebt Oma nun an. „Damals behaupteten viele, es gäbe nichts mehr zu tun. Aber es gab doch noch einige, die begriffen. Die Missstände hatten sich noch nicht gar so effizient in die Strukturen verkrochen. Deine Eltern hat das alles aber nicht interessiert. Und die Welt ging vor die Hunde.“ „Das ist nicht fair, Oma. Es wurde doch viel getan. Gerade im städteplanerischen Bereich ist doch unheimlich viel gegangen.“ „Ich habe dir schon immer gesagt, dass ich davon nicht viel halte. Plätze der Begegnung und Themen-Cafés sind weniger effizient als Quoten. Schau sie dir doch an – die Mütter von heute. Sie haben noch immer diese weiten Augen. Was hilft es ihnen, dass ihnen keiner mehr in die Strassenbahn helfen muss, wenn sie drinnen auf diese kalten Gesichter prallen. Masken aus Granit, gespenstisch. Kinder sind und bleiben Anarchisten. Und nun brüllt es los und rundum die kalten Blicke und jeder birgt einen anderen Vorwurf: Was machst du mit deinem Kind, dass es so brüllt? Erziehen solltest du die Göre! Warum musst du auch in die Strassenbahn mit deinem Balg! Aber ausser des Brüllens ist nichts zu hören und gegen verschwiegene Verunglimpfung lässt´s sich schlecht verteidigen.
Oder euer Homeoffice – ich konnte immerhin noch plausibel machen, dass ich nicht gleichzeitig im Büro und zuhause sein kann. Aber heute? Dauernd bei der Arbeit und doch beim Kind, dauernd beim Kind und doch bei der Arbeit, welch anhaltendes Versagen.“
„Das klingt ja fast so, als sei es egal, was man macht – die Mütter bleiben immer die armen Opfer. Ich finde die Homeoffice-Geschichte eine gute Sache. Und das ist ja nur ein Bruchteil von allem, was getan wurde. Was wollen die Damen Mütter denn noch?“ „Vielleicht hätte man einmal fragen sollen: Was wollen sie? Dann hättet ihr all die Nochs sparen können.“ „Und was hätten sie geantwortet, die Mütter?“ „Sie wollen für ihr Mehrkönnen nicht bestraft werden. Sie wollen eine Kultur der Wertschätzung und Förderung. Sie wollen eine Kultur, die Vielfalt anerkennt und ihr freudig ihren Boden legt.“ „Mein Gott, Oma, was sind denn das für pompöse Reden! Und ausserdem: Was haben wir denn anderes getan, als eben diese Vielfalt, von der du schwärmst, zu fördern? Die Strassenbahnen sind – niederschwellig. Sie fahren rund um die Uhr im Fünf-Minutentakt. Die Verbindungsschilder sind gross und hell, die Stadt symmetrisch angelegt. Die Autos werden vor der Stadtgrenze unterirdisch geparkt – die allgemeinen Verbindungen sind gut und günstig. Alle können sich ein E-Bike leisten. Auf dem Platz der Kulturen…“ „…sitzen Kubaner und Südafrikaner sauber sortiert.“ Ich nehme mir vor, mich nicht provozieren zu lassen. „Und was ist mit den Eltern-Kind-Kaffees? Eingegangen. Was hilft es, wenn man ihnen den Teppich ausrollt und sie ihn nicht betreten…“ „Vielleicht waren diese Kaffees für junge Familien zu teuer? Oder Alleinerziehende fanden auch hier keinen Anschluss, weil die intakten Familien sich so wunderbar abgerundet geben in ihrer öffentlichen Fröhlichkeit?“ „Was denkst du denn, was bräuchte es?“
„Ganz einfach: Fangt bei den Menschen ein. Natürlich ist wichtig, was ihr da tut. Aber: Fangt beim Menschen an. Ergänzt die Orte mit Plakaten „Hier wird auch gebrüllt“, „Stillende Mütter willkommen“ – gebt den Menschen Anlass zu Denken und zum Gespräch. Vor allem aber bräuchte es eine kräftige Portion éducation sentimentale – Lektionsumfang je nach Bedarf. Und wer nicht so viele Stunden belegen muss, geht in die Selbstverteidigung – das fühlt sich besser an als sich allein dem Schutz kameraüberwachter Alleen anheim zu stellen. Lasst eure Kinder Kinder sein und euch daran gemahnen, dass das Leben nicht zu kontrollieren ist. Gestaltet eure Räume, plant und formt. Aber vergesst eure Begrenztheit nicht und lasst das Grenzenlose daran teilhaben und chaotisch wirken.“
Als ich spät abends in die Stadt zurücksauste, brodelte ein seltsames Gemisch aus Verlegenheit, Wut und Bewunderung in mir. Ich denke, es ist ganz stimmig, dass meine Oma ausserhalb der Stadt auf einem Hügel lebt.