Ich schoss ein Foto. An meinem grauen Teppichboden klebten überall Blutstropfen. Meine Beine sahen so aus, als hätte mich ein Monster angegriffen. Dennoch schoss ich das Foto und stellte es in meinen Blog. Das Foto musste unbedingt erschreckend wirken. Ich sah es mir an. Meine Beine sahen mittlerweile aus wie Hühnerbeinchen und ich hatte schon so viele Narben. Damals waren meine Beine muskulös, doch jetzt musste ich mir das antun, damit der Schmerz wenigstens ein bisschen erträglicher wurde. Ich bearbeitete das Foto ein wenig und dann stellte ich es auf meinen Blog „Gemeinsam Einsam“. Meine Psychiaterin hatte mir geraten so einen Blog zu erstellen, damit ich mit anderen, die dasselbe durch machten, Kontakt aufbauen könnte. Sie hatte Recht, der Blog bewahrte mich davor, mir das Messer in den Hals zu rammen. Ab und zu schnitt ich mir die Haut auf, doch das war tausendmal besser als zu sterben. Allerdings wusste ich, sobald der Schmerz in meinen Beinen verstummt war, würde der Schmerz in meinem Innern wieder auftreten. Während das warme Blut noch an meinen Waden herunterlief und dann auf dem Boden landete, schrieb ich in meinem Blog: „Es macht den Schmerz erträglicher. Jeder einzelner Schnitt. Doch was ist wenn sie verheilen? Es wird alles wieder auf mich herabkrachen. Nur eine Tat kann dem Ganzem ein Ende setzen.“ Ich schickte es ab und ein paar Minuten später konnte man es schon auf meinem Blog sehen. Gut, dass meine Psychologin nicht wusste, wie mein Blog hieß.
Schon seit Monaten beobachtete ich diesen Blog „Gemeinsam Einsam“. Immer wieder fand man dort erschreckende Bilder oder Sprüche über den Tod. Ich interessierte mich nicht wirklich für diesen Blog, sondern mich interessierte nur der Mensch, der dahinter steckte. Deswegen machte ich mich auf die Suche nach der Person. Ich wollte der Person zeigen, dass es doch Menschen gibt, die sich um ihn sorgten. Ich war durch halb Deutschland gefahren, um diese Person zu finden und ich fand sie auch. Ich hatte mit ihm, er wollte mir seinen Namen nicht verraten, ein Treffen ausgemacht, unter dem Vorwand, ich sei der größte Fan von seinem Blog. Als ich ihn im Café sah, war ich erstmal geschockt. Er war blass, hatte überall Narben, sein hellbraunes Haar stand in allen Richtungen ab und auf seinem T-Shirt konnte man überall ganz kleine Blutstropfen finden. „Hey, ich bin Luana, das Mädchen vom Telefon.“, stellte ich mich freundlich vor. Er nickte nur, was wohl hieß, dass ich mich zu ihm setzen durfte. Jetzt konnte ich ihn erst so richtig erkennen. Seine Augen waren riesengroß und so braun. Der Rest von seinem Körper schien nicht mehr ihm zu gehören, aber seine Augen waren noch da. „Wer bist du?“, stotterte ich, denn ich hatte mich so in seinen Augen verloren, dass ich mich nicht mehr beherrschen konnte. „Du bist wunderschön.“, stammelte er. Darauf war ich nicht gefasst. Als er das sagte, blitze in seinen Augen ganz kurz Glück auf. Etwas, was er anscheinend nicht kannte. „Dankeschön.“, entgegnete ich verlegen. „Ich bin Chris.“, antwortete er mit einem klitzekleinen Lächeln. Ich reichte ihm die Hand. Zögerlich nahm er sie entgegen. Dafür dass er so dünn war, hatte er riesige und raue Hände. Richtige Männerhände, doch jetzt sah er eher aus wie ein kleiner schüchterner Junge. „Freut mich dich kennen zu lernen!“, sagte ich lächelnd. Wir unterhielten uns über seinen Blog, aber das war nur oberflächlich. Er antwortete zwar auf jede Frage, doch ich merkte wie er mich belog. Ich traf mich öfter mit ihm, denn je besser ich ihn kennen lernte, umso mehr schloss ich ihn in mein Herz. Bei jedem Treffen sah er schon ein bisschen besser aus. Er wusch seine Klamotten, machte seine Haare und rasierte sich. So sah er wirklich verdammt gut aus. Wir hatten Spaß, gingen ins Kino oder Eis essen, aber wirklich mal darüber reden taten wir nicht. Wir saßen gerade auf einer Bank im Park, da fragte er mich: „Warum hängt ein so schönes Mädchen wie du mit mir ab?!“ Sein Selbstbewusstsein war wirklich so tief. Ich versuchte es aufzubauen, doch es war so schwer, wenn ich nicht alles von ihm wusste. „Warum hängt ein so toller Mann mit mir ab?“, erwiderte ich. Er lächelte. Es war das Schönste was man an ihm sehen konnte und mein Herz ging gleich auf. „Eine ganz einfache Antwort.“, sagte Chris ernst, machte eine Pause und sah mir in die Augen. Ich schluckte, denn so einen Blick hatte ich bei ihm bisher noch nie gesehen, dabei verbrachten wir seit Monaten fast jeden Tag miteinander. „Ich habe mich in dich verliebt, Luana.“, flüsterte er verlegen. Mein Herz schlug schneller und ein Kribbeln breitete sich in meinem ganzen Körper aus. Blitzschnell setzte ich mich auf seinen Schoß, nahm sein Gesicht in meine Hände und presste meine Lippen gegen seine. Die letzten Monate hatte ich dagegen angekämpft, was ich für ihn empfand, doch jetzt ließ ich alles zu. Er umfasste meine Hüfte und meine Hände vergruben sich in seinem Haar. Wir küssten uns wild und leidenschaftlich, so wie es Jugendliche immer taten, allerdings steckte hinter diesem Kuss noch mehr. „Ich liebe dich auch.“, stöhnte ich zwischen dem Kuss hervor. Ich liebte ihn wirklich und ich würde es immer tun. „Du fragst dich bestimmt, was es mit meinem Blog auf sich hat?“, meinte er, als wir uns wieder in die Augen sahen. Ich nickte schnell und heftig. „Vor einem Jahr kam ein Video von mir online, wie ich verprügelt wurde. Alle aus meiner Schule beleidigten mich und das nicht persönlich, sondern nur im Internet. Hass-Kommentare waren für mich normal. Ich kam mir so dreckig und schäbig vor. Ich verlor alles, meine Freunde, meine Existenz. Ich ging nicht mehr aus dem Haus, ich tat generell einfach gar nichts mehr. Für mich war mein Leben vorbei. Vor allem konnte ich mich nirgendwo zurückziehen. Der Schmerz verblieb für immer in mir drinnen. Nur mit anderen Schmerzen konnte ich dem für kurze Zeit entrinnen. Somit schnitt ich mich überall. Als meine Mutter mich dann bei einem Selbstmordversuch erwischt hat, brachte man mich in eine Klinik und dort erstellte ich den Blog. Er half mir mit den Schmerzen klar zu kommen, denn ich wusste, verschwinden würden sie nie.“, erzählt er ohne jegliche Emotionen. „Und dann kamst du. Du hast mir das gegeben, was noch gefehlt hat, nämlich ein Lebensinhalt. Denn ohne dich, könnte ich nicht mehr leben. Ohne dich könnte ich noch nicht mal sterben.“ Mir kamen die Tränen. Ich war der Grund warum er noch lebte. Ich hatte die Liebe meines Lebens gerettet.