Meine Eltern wissen nicht, dass ich das mache. Sie verstehen mich einfach nicht. Sie sind nicht wie ich. Ihnen genügt es, dass sie wie Verlierer auf dem Sofa sitzen und in die Röhre klotzen. Ich will mehr- ich will was Besonderes sein. Die Männer verstehen das. Ich brauche sie und sie mich. Im Internet findet man schnell Männer. Da gibt es so viele, die mich brauchen- so viele, die mich schätzen. Die meisten wollen mein Alter gar nicht wissen, sie verstehen, dass es auf so was wie Alter nicht ankommt. Sie sehen mich als Erwachsene.
Wenn ich von der Schule nach Hause komme, logge ich mich schnell auf den Plattformen ein. Dort ist man anonym. Man kann sich allerdings einen Chatnamen aussuchen, was ich toll finde, denn das macht mich geheimnisvoll. Die Männer in dem Chat sind älter als ich, aber das ist egal. Sie sind erwachsen und ich bin es schließlich auch.
Mein Chatname ist Schneewittchen. Schneewittchen ist etwas Besonderes.
Ich habe auf meinem Profilbild rote Lippen, genau wie sie.
Die Männer mögen das. Sie brauchen mich.
>Wolfi: Hey Schneewittchen. Schöne Lippen hast du.
Schneewittchen: Dankeschön
Wolfi: Da hast du bestimmt nicht nur sieben Zwerge, die dir hinterher schauen…
Schneewittchen: Ich mag keine Zwerge.
Wolfi: Sehr gut, bin nämlich auch keiner.
Schneewittchen: So? ...Was bist du denn dann?
Wolfi: Ein Wolf.
Schneewittchen: Ich stehe ja nicht so auf haarige Wesen…
Wolfi: und wenn ich ein gepflegter Wolf bin…?
Schneewittchen: Das hört sich schon besser an. Bist du dann auch ein Rudeltier?
Wolfi: ich würde mich mehr als einsamer Wolf beschreiben, der ein bisschen Liebe braucht…
Schneewittchen: Und wie gibt man dir diese Liebe?
Wolfi: Mit so schönen Lippen.
Schneewittchen: Und die kannst du dir einfach so anschauen und fühlst dich geliebt?
Wolfi: Mmmh…anschauen tu ich sie mir zuerst.
Schneewittchen: Und dann?
Wolfi: Dann kommt die genauere Betrachtung und die Einschätzung, ob sie das versprechen, was ich mir erhoffe…
Schneewittchen: Wie betrachtet man die Lippen den genauer. Reicht es nicht, wenn man sie sieht?
Wolfi: Nun ich denke, dass sie erst einmal Kontakt mit meinen aufnehmen könnten. Sozusagen ein erstes Treffen, bei dem sie sich besser Kennenlernen.
Schneewittchen: Und du bist dir sicher, dass sie das mögen würden?
Wolfi: Oh davon bin ich überzeugt. Wölfe sind leidenschaftlich.
Schneewittchen: Wie darf ich mir das vorstellen?
Wolfi: Sie beißen auch mal, aber können sie natürlich auch verwöhnen mit ihrer weichen Zunge <
Ich mag es mit ihnen zu spielen, denn ich weiß, dass sie das mögen. Also tippe ich ein paar Buchstaben und aber schicke sie nicht ab. So sehen sie, dass ich schreibe, müssen aber warten.
Schneewittchen: (schreibt…)
(10min später)
> Wolfi: Bist du noch da?
Schneewittchen: Ja, habe mich nur fertig gemacht.
Wolfi: Wofür denn?
Schneewittchen: gehe aus.
Wolfi: Aber doch hoffentlich nicht in den bösen Wald.
Schneewittchen: Nein, das nicht. In die Stadt.
Wolfi: Oh wie schade, da ist der Wolf ja wieder einsam…
Schneewittchen: Das ist richtig…
Wolfi: Mmmmh, was machen wir denn da…vielleicht sollte der Wolf auf dich aufpassen…
Schneewittchen: Ich brauche keinen, der auf mich aufpasst.
Wolfi: Hey, warum so böse? Da draußen gibt es auch böse Wölfe: …
Schneewittchen: Mit denen muss ich auch klar kommen.
Wolfi: Denen??????? <
Ich habe keine Angst vorm bösen Wolf. Schneewittchen kann auf sich selber aufpassen. Ich brauche das Geld. Keiner kennt mich. Hier bin ich Schneewittchen, nicht Katharina. Hier, bin ich nicht das kleine, dumme Mädchen, dessen Eltern kein Geld haben. Hier habe ich Macht. Männer mögen meine Haare, meine Lippen. Mein Körper bereitet ihnen Lust.
Hier werde ich nicht für meine großen Brüste dumm angeschaut. Echte Männer warten hier auf mich. Echte Männer, die mich schätzen und nicht so viel Müll labern wie die kleinen Jungs in meiner Klasse. Ich kann mir von dem Geld tolle Sachen kaufen, von denen die Spinner nur träumen können.
Schneewittchen: (schreibt…)
Wolfi: ?
(15min später)
Wolfi: Bist du da?
Wolfi: Hallo?
Schneewittchen: Vielleicht treffe ich in der Stadt einen einsamen Wolf…
Wolfi: Oh ich glaube auch. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit höher, wenn der Wolf weiß, dass er auch etwas bekommt.
Schneewittchen: Er bekommt Schneewittchen. Vorm Astoria, halb acht.
Wolfi: Na das freut den Wolf aber! Was wird sie anhaben? Wird sie so schöne rote Lippen haben?
Schneewittchen: Sie wird einen Rock tragen. Rote Lippen auch.
Wolfi: Bis dann mein schönes Schneewittchen. Der einsame Wolf wird sehr leidenschaftlich sein.>
LOGOUT.
Was habe ich schon zu verlieren, ist doch mein Körper. Ich bin gerne sexy.
Sexy. Das klingt so erwachsen und mit 16 bin ich das ja schließlich auch schon, irgendwie. Die Männer behandeln mich wie eine Erwachsene. Sie wissen, dass ich kein Kind mehr bin.
Ich treffe mich heute mit dem Wolf.
-
„Gerhard?“, schreit seine Frau Susanne. „Gerhard, mach schnell! Schau dir das!“ Was ist denn nun schon wieder los? Kann er nicht einmal auf dem Sofa sitzen und einfach nur sein Bier trinken? „Gerhard!“, schreit sie erneut. „Ja, ich komme doch!“, brummt er mürrisch. Als er das Zimmer seiner Tochter betritt, sieht er seine Frau kreidebleich mit einem Buch in der Hand. „Was ist denn nun schon wieder los!? Ich habe ihr bereits gesagt, dass sie aufräumen soll!“ Seine Frau schüttelt den Kopf. „Lies“, sagt sie ohne auch nur eine Regung zu zeigen.
Es ist das Tagebuch seiner Tochter. Er beginnt zu lesen. Seine Augen werden immer größer und er fragt: „Wo ist Katharina?“. Seine Frau fängt an zu weinen. „Wo ist sie?“, sagt er lauter, als er es vor hatte. Schweißtropfen bilden sich auf seiner Stirn. „Ich weiß es nicht, sie wollte doch nur zu ihrer Freundin.“ Er stürzt in die Küche und holt sein Handy. Er wählt hastig ihre Nummer und immer wieder vertippt er sich, da seine Finger zittern. Er kann sie nicht erreichen. Seine Frau kommt mit ihrem Telefon in die Küche und sagt:“ Luises Mutter hat gesagt, dass Luise alleine zu Hause ist. Katharina ist nicht bei ihr.“ Wieder wählt er die Nummer seiner Tochter, doch es geht niemand ans Telefon. „Wir rufen die Polizei!“. Als er die Nummer wählt, schreit seine Frau. Er rennt, noch immer mit dem Hörer in der Hand, zu ihr. Seine Frau steht im Schlafzimmer vor dem offenen Kleiderschrank. „Was ist?“, fragt er. „Mein schwarzer Lederrock ist weg.“
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Alle in der Schule reden über Katharina. Sie reden wild durcheinander, nur Jonas ist still. Er mochte sie. Während sich die meisten über sie den Mund zu zerreißen, schaut Jonas auf den Zeitungsartikel: „Mädchen am Astoria gefunden. Katharina W. (16), wurde am Freitagabend vor dem Astoria gefunden. […] über das Internet, verabredet […] Polizei sucht Zeugen […] unter dem Namen „Schneewittchen“. Als er nach Hause kommt, muss Jonas immer noch über Katharina nachdenken. Er setzt sich und zündet eine Kerze an. Schneewittchen, denkt er, der Name passte zu ihr. Es wird später und seine Mutter steckt den Kopf zum zweiten Mal in sein Zimmer und sagt: „Jonas, du hast morgen Schule! Mach das Licht jetzt aus und geh schlafen!“ Doch Jonas kann nicht schlafen.
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Brigitte Pahl steckt den Kopf zum zweiten Mal in das Zimmer ihres Sohnes, um zu sehen, ob er nun endlich schläft. Er liegt zusammengerollt in seinem Bett, jedoch brennt die Kerze auf dem Schreibtisch noch. Sie geht in das Zimmer und pustet die Kerze aus, dabei fällt ihr Blick auf ein Blatt Papier. Vielleicht eine Schularbeit denkt sie und fängt an zu lesen:
Das Haar so schwarz wie Ebenholz;
Die Haut so weiß wie Schnee;
Die Lippen so rot wie Blut.
Tag und Nacht,
geht sie die Straßen auf und ab.
Das Haar wallt bis zu ihrer Hüfte.
Der Rock ist klein,
das Verlangen groß.
Klick, klack-
ihre Schuhe sind hoch,
klappern im Takt auf dem Asphalt.
Übertönen die Schritte hinter ihr.
Der Lärm, verscheucht das Geräusch der Gier.
Ein kleiner Klapps,
sie wird wach, dreht sich um,
sieht das Geld, nicht den Mann,
der ihr so viel Leid antun’ kann.
Sie braucht es dringend;
nimmt seine Hand;
führt sie in die stille Ecke;
muss riechen das Verlangen seinerseits,
in Form von heißem, stinkenden Schweiß.
Schnell geht er in seine Art von Lust über:
Klebrig. Dreckig. Hart. Kalt.
Nur das Geld, das Geld,
so sind ihre Gedankenschübe.
Gepresst hat er sie,
an eine Wand.
Sie spürt den Abdruck seiner nassen Hand.
Dann ist er fertig-
lässt sie nieder.
Geht weg-
ihre Glieder rühren sich nicht mehr.
Sie hat nicht in den Apfel gebissen und doch liegt sie dort-
Von Schauer umrissen.
So schwarz wie Ebenholz, das zerzauste Haar.
So weiß wie Schnee, das starre Gesicht.
So rot wie Blut,
überall-
nur der Mund ist es nicht.