Jugend für Europa
Lilith hat an einer Simulation des Europäischen Parlaments für Schüler mitgewirkt und lässt euch an ihren Erfahrungen teilhaben. Sie berichtet, wie es ist, einige Tage als Politiker/in zu verbringen, und wie spannend und anstrengend zugleich das sein kann.
(c) Thomas Schmelzer/SIMEP 2015
Halb erschöpft sitzen wir auf unseren Plätzen im Plenarsaal des Abgeordnetenhauses in Berlin. Es ist Montag der 9. November, 20 Uhr, und unsere SIMEP nähert sich so langsam dem Ende. SIMEP – das heißt: Simulation des Europäischen Parlaments und bedeutet genau das: 200 Jugendliche versetzen sich für zwei Tage in die Rolle eines Abgeordneten und vertreten im Europäischen Parlament sowohl ein bestimmtes Land als auch die Position einer bestimmten Partei. Hart und fast ohne Pause haben wir die letzten Tage gearbeitet, haben uns in die kontroversen Diskussionen zu den Themen TTIP (Transatlantisches Freihandelsabkommen zwischen EU und USA) und Entwicklungspolitik geschmissen, und sind den Weg zu einem neuen internationalen Klimaabkommen in Paris angetreten, haben uns mit Journalisten und Lobbyisten herumschlagen müssen und die Möglichkeit bekommen, mit prominenten Gästen wie Wolfgang Schäuble, Manuel Sarrazin, Martin Schulz und Ralf Wieland zu diskutieren – und das rund um die Uhr, sodass wir kaum zum Essen kamen. Durchaus spannend, aber mindestens genauso anstrengend.
„Eigentlich sollten wir schon vor einer Stunde fertig sein!“ murmelt mein Nachbar ein wenig müde, aber keinesfalls entmutigt, denn wir sitzen momentan in der unglaublich spannenden Diskussion über das Transatlantische Handelsabkommen TTIP und versuchen, mit unseren letzten stichhaltigen Argumenten noch möglichst viele Abgeordnete der anderen Fraktionen für uns zu gewinnen – es sieht schlecht aus für unsere Partei. Natürlich stimmen sowohl die Liberalen der ALDE (Allianz der Liberalen und Demokraten Europas) als auch die Christdemokraten der EVP (Europäische Volkspartei) nicht für unsere Position, die gesamten Verhandlungen aufzugeben und auf transparenten und basisdemokratischen Wegen einen Neustart anzupeilen. Selbst die S&D (Socialists and Democrats), die bisher in vielen Themen hinter uns stand, stimmt dieses Mal überwiegend gegen unseren Änderungsantrag – Mist. Da ist es in den Themen Entwicklungspolitik und Klimaschutz doch deutlich besser für unsere Fraktion gelaufen.
Bereits am Vortag stolperten wir in unserer Partei beim Bearbeiten der Entwürfe für diese beiden Themenfelder zum Teil über viel zu niedrig angesetzte Ziele, aber auch über auf den ersten Blick gar nicht einfach zu erkennende Formulierungen wie „so bald wie möglich“ oder „alle dazu fähigen Länder“, die uns als KVEL/NGL natürlich nicht eindeutig genug waren – wann sollte „so bald wie möglich“ sein? In 20, 30 oder 100 Jahren?? Und wer bestimmt, ob es sich bei einem Land nun um ein „fähiges Land“ handelt, um Geld für den Klimaschutz und die Entwicklungshilfe abzugeben? Nein, es mussten eindeutig genauere Formulierungen her. In diesen Bereichen hatten wir oft die Grünen und teilweise auch die S&D auf unserer Seite.
„Unsere Erde bekommt so langsam Fieber und wir sind schuld daran. Wir als Europäer können unsere Probleme nicht einfach auf die ärmeren Länder abwälzen. Außerdem müssen wir jetzt eingreifen. Wir müssen jetzt den Klimawandel stoppen und ärmere und benachteiligte Regionen unterstützen – denn je länger wir warten, desto teurer und aufwändiger wird es und desto schlechter stehen unsere Chancen, es überhaupt noch in den Griff zu bekommen“. Mit diesen und ähnlich harten Worten und zusätzlich etwas Verhandlungsgeschick schafften wir es sogar, in manchen Forderungen die ALDE oder auch einzelne Vertreter des rechten Flügels für unsere Interessen zu gewinnen, um eine Mehrheit zu erlangen, sodass der überwiegende Teil der rechten Seite des Plenarsaals in den ersten Stunden immer und immer schlechter gelaunt wurde. Jetzt haben in der TTIP-Debatte eben wir Linken den Schwarzen Peter gezogen. Aber: So muss es den Abgeordneten des wirklichen Europäischen Parlaments wahrscheinlich auch des Öfteren gehen und somit ließen wir uns von dieser Niederlage und auch von den teilweise aufkommenden persönlichen Beleidigungen gegen uns nicht den Spaß an der gesamten Simulation vermiesen.
Hineingeschlüpft in die Rolle einer der Fraktionsvorsitzenden an der Doppelspitze der KVEL/NGL (Konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken) verfolge ich nun weiter gespannt die Vorschläge der EKR (Europäische Konservative und Reformer), EVP und der ALDE, die sich gerade tatsächlich das Recht herausnehmen, mit dem TTIP die Interessen der Wirtschaft über unser soziales Wohlbefinden zu stellen – eine Frechheit. Nun meldet sich auch noch ein Sprecher der S&D zu Wort, um das ganze nochmals zu bekräftigen – wir lassen uns das nicht länger gefallen und stehen als gesamte Fraktion auf, um den anderen Buh-Rufe und Papierflieger entgegenzuwerfen und uns mit unseren Schildern, auf denen in sämtlichen Sprachen „Nein!“ und Ausdrücke wie „Nichts als dummes Geschwätz!“ zu lesen ist, uns klar gegen die Aussagen der anderen zu positionieren.
Und schon wieder fällt uns wie so oft in den letzten 48 Stunden auf, wie schwierig es ist, insbesondere im Plenum gemeinsame Beschlüsse zu fassen und sich auf Kompromisse zu einigen – und hier sind es gerade einmal 200 Schüler/innen, die sich irgendwie einigen müssen – in Wirklichkeit sitzen im Europäischen Parlament jedoch 751 Abgeordnete. Fast unglaublich, wie es da möglich ist, Richtlinien, Verordnungen und Entscheidungen zu beschließen.
Etwa eine weitere halbe Stunde später ertönt schließlich die europäische Nationalhymne, die unserer Simulation der letzten beiden Tage ein Ende setzt. Gespalten zwischen Bedauern, dass das ganze nun schon wieder vorbei ist, und Erleichterung, dass wir es endlich geschafft haben, drei Beschlüsse zu verabschieden, mit denen die meisten zumindest einigermaßen zufrieden sind, torkeln wir etwas benommen von der langen Sitzerei aus den Türen des Plenarsaals hinaus, um uns nun bei Brezeln und einem Stück des SIMEP-Kuchens mit den „wirklichen“ Teilnehmern/innen und nicht mit deren eingenommenen Rollen zu unterhalten, die wir tatsächlich meist sehr überzeugend nachgespielt haben. Es werden die eigenen Positionen klargestellt, die teilweise um 180° von den gerade vertretenen abweichen, Nummern ausgetauscht und man verabredet sich schon jetzt für das nächste Jahr, wenn man sich wieder live in lebhafte Diskussionen in den politischen Themen, die die EU momentan betreffen, einmischen und mitreden wird.
Autorin / Autor: Lilith; Bild: (c) Thomas Schmelzer/SIMEP 2015 - Stand: 30. November 2015