Jeden Morgen werde ich vom Vibrieren meines Handys wach. Noch bevor ich die Augen aufschlage, taste ich im Dunkeln danach. Es liegt immer auf der Kommode neben meinem Bett, direkt neben den Taschentüchern. Während ich das Ladekabel entferne, setzte ich mich auf und entsperre den Bildschirm und gehe online. Dieser Vorgang dauert in der Regel etwa dreißig Sekunden. Die einzigen dreißig Sekunden in wachem Zustand, die ich nicht erreichbar bin. Dreißig Sekunden, die dazu ausreichen, dass in den ersten Chats schon Fragezeichen blinken. Als erstes checke ich meine WhatsApp Nachrichten, anschließend die auf Facebook, Instagram, Snapchat und Twitter. Nachdem ich allen einen guten Morgen gewünscht und meine Träume gepostet habe, gehe ich ins Bad. Während ich dusche, überlege ich mir welchen Lidschatten und welche Lippenstiftfarbe ich heute auftrage. Kajal oder Eyeliner? Eine falsche Entscheidung und die ganze Welt tratscht über deinen schlechten Geschmack! Als meine Haare gerichtet und mein Make-Up-Kunstwerk vollendet ist, positioniere ich mich für ein paar Fotos vor dem Fenster in meinem Zimmer. Ich rotiere mit den Hintergründen immer, damit ich nicht zwei Tage hintereinander denselben habe: Die Fotowand in meinem Zimmer, die hellgrüne Wand, die Spiegel im Badezimmer und die Fenster. Die Wand mit den Bücherregalen in meinem Zimmer benutze ich nicht mehr als Hintergrund seit unter meinen Bildern Kommentare, wie „Streberin“, „Hast du keine Freunde?“, „Du weißt aber schon, dass wir im 21. Jahrhundert leben, oder?“ und ähnliches, gepostet wurden.
Das Licht, das durch die Fenster fällt, ist schlecht, deshalb jage ich meine Fotos noch durch einen Filter, bevor ich mein Gesicht mit drei verschiedenen Apps korrigiere. Meine Augen wirken danach ausdrucksstärker, mein Haar voller, mein Mund besser geformt. Jetzt sehe ich beinahe perfekt aus, fast so, wie die anderen Mädchen. Sofort lade ich die Bilder hoch. Schon während ich die Treppen hinunter gehe um zu frühstücken, schreiben mich die ersten Männer an, ob ich heute Abend nicht Zeit hätte. Offensichtlich sind mir die Fotos heute wirklich gut gelungen! Als nächstes poste ich ein Glas Wasser und einen Apfel, ich drapiere beides so auf der Ablage, dass es aussieht wie ein kleines Stillleben. Augenblicklich bekomme ich Komplimente, dass ich so diszipliniert bin, und eine tolle Figur hätte. Unter den Kommentaren sind aber auch ein paar, die mir raten, lieber gar nichts zu frühstücken, in Äpfeln sei viel Fruchtzucker. Dazu werden auch ein paar Links zu Diätplattformen gepostet, ich hätte es nötig. Auf den nächsten Bildern werde ich mich dünner korrigieren! Ich lasse den Apfel bei meinem Frühstück weg, und kommentiere stattdessen noch Bilder und Statements anderer Leute. Auf Facebook finde ich eine interessante Seite, auf der ich mich zu lange aufhalte. Nachdem ich zwei Minuten lang nicht geantwortet habe, hat meine Freundin Clara schon auf vier verschiedenen Plattformen gepostet, ich sei verschollen. Schnell antworte ich ihr, und entschuldige mich. Um zu beweisen, dass ich voll bei der Sache bin, stelle ich schnell noch ein paar neue Fotos online. In der Eile vergesse ich, mir etwas Neues anzuziehen und ein neues Make-Up aufzulegen. Mist, jetzt sehe ich genauso aus, wie vor einer halben Stunde!
Schreiend erwache ich. Nicht schon wieder dieser Traum! Das schlimmste an dieser Art Alpträumen ist, dass sie wahr sind. Bis vor kurzem sah mein Leben wirklich noch so aus. Ich war abhängig davon, was andere über mich dachten, oder besser gesagt, was sie von meinem virtuellen Ich hielten. Aber eigentlich gibt es da keinen großen Unterschied mehr. Virtuell oder real, das spielt keine Rolle mehr. Wer im Netz unten durch ist es auch in der realen Welt, denn - seien wir einmal ehrlich - die virtuelle Welt ist ein großer Bestandteil der Realität. Ob wir das wahr haben wollen oder nicht! Ob unsere Eltern und Lehrer uns etwas anderes erzählen oder nicht! Ich dachte, dass ich diesem Leben, in dem ich immer online sein muss, vom Klingeln des Handyweckers bis mir die Augen zufallen, diesem Leben, in dem ich mich ständig präsentieren muss, als wäre ich ein Pferd, dass zum Verkauf angeboten wird, diesem Leben, in dem ich mich ständig von anderen bewerten lassen muss, wie ein Gegenstand, dessen Wert ermittelt werden soll, niemals entkommen werde. Ich hatte mich damit abgefunden kontrolliert, beurteilt und verspottet zu werden. Ich hatte mich damit abgefunden, dass nur mein Körper im Netz entscheidend war. Ich hatte mich damit abgefunden, jegliche vorhandene Intelligenz zu verbergen. Statt einer starken emanzipierten Frau, war ich ein kleines, oberflächliches auf ihren Körperbau und ihr Gesicht reduziertes Mädchen. Was ich jetzt bin? Unscheinbar. Unbekannt. Natürlich. Ich selbst. Eine Hackerin.
Zusammen mit meinen neuen Freundinnen, Freundinnen, die mich auch ohne Schminke, tolle Frisur und ständige Präsenz im Internet mögen, schleuse ich mich heimlich in die sozialen Netzwerke. Wir sind dort genauso aktiv, wie die üblichen Nutzer. Eigentlich unterscheiden wir uns auch nicht großartig von ihnen. Außer, dass wir den Hintereingang benutzen, und statt selber Kommentare zu posten, die von anderen überarbeiten oder löschen. Statt die Mädchen zu ermutigen Fotos mit weniger Bekleidung hochzuladen, motivieren wir sie, die Filter und Bearbeitungsprogramme wegzulassen, aus Beleidigungen kreieren wir Komplimente, besonders anzüglichen Kommentaren antworten wir mit Viren. Wir möchten niemanden Schaden zufügen, wir möchten auch nicht die Meinungsfreiheit eingrenzen, aber wir möchten faires Verhalten im Netz. Wir leben im 21. Jahrhundert, wir leben in großem technischen Fortschritt, der viele Möglichkeiten bietet, aber wir leben auch in einer Zeit, in der Menschenwürde und Gleichberechtigung herrschen (sollten)!