Mein Leben mit Alison

Einsendung zum Wettbewerb #netzheldin von Ramona, 23 Jahre

Es fällt mir immer noch nicht leicht, über das Geschehene zu sprechen, aber es ist höchste Zeit, dass die Welt von Alison erfährt. Der wunderbaren Alison, meiner Heldin.

Alles begann vor einem Jahr im Dezember. Ich litt an einer depressiven Episode, ging nur selten zur Schule und vergrub mich die meiste Zeit allein mit meinen Gedanken im Bett. Meine Eltern lebten getrennt. Mein Vater hatte eine neue Familie gegründet, knapp tausend Kilometer entfernt. Und meine Mutter, ja – die war damit beschäftigt unseren Lebensstandard mit Doppelschichten im Krankenhaus aufrecht zu halten. Die wenigen Freundschaften, die ich aufgebaut hatte, verflüchtigten sich zusehends, als ich im August vom Gymnasium auf die Realschule wechselte. Letztendlich war es Einsamkeit, die mich zu der Idee trieb, mich bei dem online Chat flirt4teens anzumelden.

Es war einfach. Ein paar Klicks, ein Geburtsdatum, das mich zwei Jahre älter erscheinen ließ, und ein Profilbild, geschossen mit meinem Smartphone vor dem Badezimmerspiegel. Ich sah verführerisch aus mit diesen intensiven Smokey-Eyes.

L: Hallo Traurigeelfe, warum so ein trübsinniger Name bei so einer Schönheit?
T: Hi Luke15, muss wohl am Wetter liegen ;-)
L: Woher kommst du?
T: Köln
L: Ich auch. Vielleicht haben wir uns schon mal gesehen. Lad doch ein paar Fotos hoch, worauf ich dich besser erkennen kann!
T: Siehst mich doch
L: Aber nicht komplett
T: Hab nur Urlaubsbilder, sind schon älter
L: Sind bestimmt toll!
T: Na gut

...

L: Super scharf! Hast du noch mehr?
T: Nur diese
L: Weißt du, was richtig cool wäre?
T: Was denn?
L: Puh…
T: ??
L: Bilder von dir ohne Bikinioberteil. Nackt.

Ich war dreizehn und suchte Zuneigung, aber ich war weiß Gott nicht dumm. Ich hatte genug TV-Sendungen über Perverse im Internet gesehen, um den Chat mit Luke15 sofort zu beenden. Ich löschte die hochgeladenen Fotos und versank noch deprimierter als zuvor in meine Kissen.

Als ich am nächsten Morgen meinen Laptop öffnete, um die neue Staffel meiner Lieblingsserie zu schauen, leuchteten drei Nachrichten in der Chatleiste. Zwei von Luke15, die ich direkt löschte. Bei der anderen überwog meine Neugier. Sie war von einem Mädchen.

W: Hallo Traurigeelfe, wie geht es dir? Es scheint, wir haben dieselbe Vorliebe für fabelhafte Nicknamen.
T: Hi Waldfee, bin sauer. Ekelhafte Typen im Chat ...
W: Hast du deshalb kein Profilbild mehr?
T: Habs gestern gelöscht
W: Kann ich verstehen. Trotzdem Lust zu quatschen?
T: Klar
W: Ich heiße Alison, du?
T: Hannah
W: Bist du heute nicht in der Schule?
T: Hab mich nicht gut gefühlt. Du?
W: Sind umgezogen. Gehe erst Montag in die neue Klasse. Habe schon richtig Lust!
T: Ich hasse Schule. Bin auch in einer neuen Klasse, aber voll die Außenseiterin :-(
W: Wieso?
T: Die Anderen mögen mich halt nicht, vielleicht weil ich dick bin
W: Quatsch, Freunde findet man immer. Du bist doch total nett!
T: :-)
W: Hast du dich mal mit wem verabredet?
T: Ne, hab mich nicht getraut
W: Lust was auszuprobieren?
T: Was denn?
W: Lass uns jede Woche eine Aufgabe vereinbaren. Einfach so, zum Spaß!
T: Versteh ich nicht
W: Wir sind beide neu, oder?
T: Ja
W: Also könnte die Aufgabe für nächste Woche sein, sich mit wem aus der Klasse zu verabreden. Danach könnten wir uns hier austauschen. Wir wären dann so etwas wie Verbündete.
T: Hm ...
W: Wenn du nicht magst, ist das okay.
T: Wäre gern deine Verbündete
W: Dann probieren wir es aus. Wenn es dir nicht gefällt, lassen wir es.
T: Ok
W: Ich freu mich!

Rückblickend fällt es mir schwer zu begreifen, wie dieser Chat so viel Energie in mir entfesseln konnte, dass ich seitdem tatsächlich wieder regelmäßig zur Schule ging. Manchmal reicht wohl ein kleiner Schupser in die richtige Richtung, um eine Veränderung auszulösen, die jemanden wie mich zurück ins Leben bringt.
 
W: Bist du da?
T: Klar
T: War im Einkaufscenter
W: Hast du etwas Schönes gefunden? 
T: War mit Melanie und Sina dort :-)
W: Verabredet?
T: Jap und Dienstag treffe ich Sina allein
W: Du bist ja richtig gut!
T: :-) Was wird unsere nächste Aufgabe?
W: Vielleicht einen Jungen küssen?
T: Lieber nicht
W: Stimmt! Habe auch noch keinen süßen entdeckt!
T: :-D
W: Machst du Sport?
T: Nö, bin nicht so sportlich
W: Wie wäre es mit einer Anmeldung im Sportverein?
T: Ok, aber nur ein Probetraining

In dieser Woche begleitete ich Melanie erstmals zu ihrem Reitstall. Den schwarzen Wallach mit den großen, traurigen Augen schloss ich auf Anhieb in mein Herz. Seither verbrachte ich Stunde um Stunde draußen bei meinen Charly, genoss die Sonne im Gesicht und merkte, wie ein Lebenshunger in mir wuchs, den ich bisher nicht gekannt hatte.
Die Aufgaben, die Alison und ich uns stellten wurden komplexer, aber ich begann richtig Spaß daran zu finden, vor allem an dem anschließenden Austausch mit ihr im Chat.

W: Was sagen deine Eltern dazu, dass du nun so viel unternimmst?
T: Nichts, mein Vater wohnt weit weg und meine Mutter arbeitet viel
W: Dann sollte unsere nächste Herausforderung eine Verabredung mit unserer Familie sein.
T: Einen ganzen Tag mit meiner Mutter?
W: Eltern sind zwar anstrengend, aber auch lieb.
T: Glaub nicht, dass sie Zeit hat
W: Sag ihr einfach, du willst den Tag mit ihr verbringen.
T: Ich kanns versuchen

Meine Mutter schien verwirrt, als ich sie um einen Tag bat, sagte dann aber ihren Wochenenddienst ab. Sie kochte mein Lieblingsgericht und gemeinsam genossen wir einen Abend auf der Couch mit Popcorn und Step Up. Der Mutter-Tochter-Tag wurde zu unserem Ritual. Auf Anraten von Alison überzeugte ich sie sogar von einer Reise nach Wien, um meinen Vater zu treffen. Es war großartig. Am Ende stellte er mir seine neue Frau und meinen zweijährigen Halbbruder vor. Auf dem Nachhauseweg konnte ich nur noch daran denken, alle drei so schnell wie möglich wieder zu sehen.

Meine Chats mit Alison wurden kürzer. Mein Leben war nun gefüllt von Freunden, dem treuen Charly und meiner Familie. Aber das war kein Problem, Alison ging es nämlich genauso.

T: Wo steckst du?

Erst Tage später erhielt ich eine Antwort.

W: Liebste Hannah, ich bin so glücklich, deine Freundin geworden zu sein und trotzdem ist es Zeit, mich zu verabschieden. Ich war nicht immer ehrlich zu dir, das will ich nun nachholen. Ich bin Alison, aber keine 14 Jahre alt, sondern bereits 22. Du bist mir damals aufgefallen, weil du deine Fotos gelöscht hast. Ich dachte, du könntest Hilfe gebrauchen und ich glaube, das hast du letztendlich auch. Ich hoffe, du bist mir nicht böse und wirst weiterhin so selbstbewusst durchs Leben gehen, wie du es heute tust. Vergiss nie, du bist ein tolles Mädchen. Vielleicht trifft man sich eines Tages wieder.

Es blieb jedoch das letzte Mal, dass ich von Alison gehört hatte. Der wunderbaren Alison, meiner Heldin.

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Autorin / Autor: Ramona