KUSS, eure Lola

Einsendung zum Wettbewerb #netzheldin von Annika, 23 Jahre

Mit zitternden Händen öffnet Merve das Notebook und sieht zu, wie sich der Desktophintergrund langsam aufbaut. Sie streicht sich eine widerspenstige braune Locke hinter das Ohr, während sie wie betäubt das aufflackernde Landschaftsfoto anstarrt. Tiefblaue Wellen recken sich an schroffen Klippen empor; eindeutig die irische Küste. Lola hat Irland geliebt. Merve schießen Tränen in die Augen. Vorsichtig fährt sie mit den Fingern über die Rückseite des Notebooks, das ihrer besten Freundin gehört hat. Es ist über und über mit Stickern beklebt, sodass kaum noch etwas von dem weißen Untergrund zu erkennen ist. „Aus jedem Land, in das ich reise, ein Sticker“, hat Lola ihr einmal mit leuchtenden Augen zugeflüstert, „bis es ganz voll ist.“ Nun wird niemand mehr die weißen Stellen füllen. Denn Lola ist tot. Als sich dieser fürchterliche Satz in Merves Bewusstsein krallt, kann sie nicht mehr verhindern, dass ihr die Tränen über die Wangen rollen und irgendwo ganz tief aus ihrer Brust kommt ein lautes Schluchzen. „Jetzt reiß dich doch mal zusammen!“, schimpft Merve mit sich selbst und wischt sich mit dem Ärmel ihres Kapuzenpullis die Tränen vom Gesicht. Schließlich hat Lola ihr einen Auftrag mit auf den Weg gegeben.

Merve erinnert sich noch gut an das Gespräch, das die beiden zwei Wochen zuvor an Lolas Krankenbett geführt haben. Das kalte Neonlicht hat Lola noch gespenstischer aussehen lassen. Ihre Stimme ist da schon ganz schwach und kratzig gewesen: „Merve, du musst mir etwas versprechen...“
„Natürlich, alles was du willst!“ Merve hat Lolas kühle Hand in ihre genommen.
„Du weißt, wie furchtbar hässlich ich mich gefühlt habe, als ich meine Haare verloren habe. Als ich immer blasser geworden bin und irgendwann nur noch Haut und Knochen war...“ 
Merve hat nur betreten genickt; die Erinnerung an diese Zeit hat sich angefühlt wie tausend Nadelstiche im Herzen.
„Ich hätte mich am Liebsten verkrochen. Die Blicke der anderen konnte ich kaum ertragen. Jeder hat hinter meinem Rücken über mich geredet und über mein Aussehen geurteilt: ‚Wie kann man nur so rumlaufen?‘, ‚Kann die nicht mal ein bisschen Rücksicht nehmen…‘ und ‚Das will doch keiner sehen! ‘ Als ich schon längst nicht mehr zur Schule gehen konnte, ging die Hetze gegen mich online weiter. Es... es war, als hätte ich mit meinen Makeln keine Daseinsberechtigung in der perfekten Onlinewelt.“ Merve hat Lolas Hand gedrückt: „Bis du angefangen hast, deinen Blog zu schreiben.“

„Genau!“ Da ist es wieder gewesen, das Leuchten in Lolas Augen. „Dieser Blog hat alles verändert. Ich habe aufgehört, mich zu verstecken. Im Gegenteil, ich bin ganz offensiv mit meiner Krankheit umgegangen und habe alle ungeschönten Bilder öffentlich gemacht. Und plötzlich wurde ich akzeptiert. Mehr noch, ich wurde zum Vorbild für viele andere Frauen.“
„Ich bin so stolz auf dich, Lola. Du bist eine Heldin!“
„Ich bin keine Heldin, Merve“, hat Lola leise gelacht. Dann ist ihr Gesichtsausdruck wieder ernst geworden: „Aber diese Frauen denken, ich sei eine Heldin. Ich darf sie nicht im Stich lassen. Und deswegen brauche ich dein Versprechen: Falls bei der OP morgen etwas schiefgehen sollte, musst du einen letzten Blogeintrag für mich posten. Schreib etwas, das ihnen Mut macht. Bitte. Versprich es mir.“
„Lola! Wie kannst du so etwas sagen? Wie kannst so etwas auch nur denken? Es wird morgen nichts schiefgehen!“
„Versprich es mir einfach.“
„--- Versprochen.“

Merve muss trotz aller Trauer lächeln, als sie sich an ihren letzten Abend mit Lola zurückerinnert. „Lola, du wirst immer meine Heldin bleiben“, murmelt sie und macht sich an die Arbeit. Eine halbe Stunde später ist Lolas letzter Blogeintrag online:


Hallo meine lieben Mitkämpferinnen,
da bin ich wieder! Ich weiß, ich hab lange nichts mehr von mir hören lassen. Aber ihr wisst ja, vor 2 Wochen hatte ich meine wichtige OP. Die OP, die darüber entscheiden würde, ob sich das Zittern und Bangen in den letzten Monaten gelohnt hat. Ob die Chemotherapie die Tumore klein genug geschrumpft hat, um sie endlich entfernen zu können. Ob ich LEBEN darf. Und was soll ich sagen…? ICH BIN GESUND!!! Zum allerersten Mal, seit dieser Albtraum angefangen hat, bin ich komplett tumorfrei! Wenn ich nicht noch so geschwächt wäre von den ganzen Strapazen der OP, würde ich jetzt wie verrückt durchs Zimmer toben. Ich könnte DIE GANZE WELT umarmen! Am liebsten würde ich jede einzelne von euch drücken, ihr seid der Hammer. Niemals hätte ich mir träumen lassen, dass ich mit meinem Blog über 10.000 Follower erreichen würde, die alle denselben unerbittlichen Kampf gegen den Krebs kämpfen wie ich. Die sich hässlich fühlten und unscheinbar und alles andere als perfekt. So, wie ich mich gefühlt habe – bis WIR uns gefunden haben. Ich danke euch von ganzem Herzen. Ihr habt mir in unzähligen Nachrichten und Kommentaren geschrieben, dass ich eure Inspiration bin und euch zum Weiterkämpfen motiviere. Dass ihr euch dank mir endlich wehren könnt gegen Ausgrenzung und Lästereien, sei es im wahren Leben oder im Netz. Aber wisst ihr was? Das stimmt nicht, IHR SELBST habt die Kraft dazu. IHR könnt es schaffen, so wie ich es geschafft habe. Ihr braucht mich nicht mehr, denn ihr seid stark genug allein. Ihr seid STARK und ihr seid SCHÖN. Ganz genau so, wie ihr seid. Ich habe mich daher entschlossen, meinen Blog mit diesem letzten Beitrag zu beenden. KÄMPFT WEITER – Wenn ich gesund werden konnte, könnt ihr es auch! <3 <3 <3

KUSS,
eure Lola

mehr Infos zum Wettbewerb

Autorin / Autor: Annika