Eine unter Millionen

Einsendung zum Wettbewerb #netzheldin von Lea, 16 Jahre

Ich kämpfte mich mit mehreren Tüten bepackt durch den frostigen kalten Dezembertag, an dem ich beschlossen hatte, einkaufen zu gehen. Vorweihnachtliches Shopping war immer eine laute, stressige Angelegenheit zwischen der Kälte draußen, der Hitze drinnen und der Wärme, die man spürte, wenn man all die Dekorationen und großen Kinderaugen sah. Ich schloss auf und seufzte erleichtert als mir die Wärme von innen entgegen strömte. Während ich die Tür wieder schloss stellte ich meine Tüten vor mich auf den Boden und beschloss, doch den Aufzug in den dritten Stock zu nehmen. Ich war nicht unsportlich, aber dann doch zu faul, um meine drei Tüten und meine wunderschöne, sündhaft teure und heißgeliebte Handtasche drei Stockwerke und ein endloses Treppenmeer hinaufzutragen. Die Aufzugtüren öffneten sich und ich lehnte mich erschöpft aber glücklich gegen die Wand. Es war alles genauso, wie es an einem nasskalten Wintertag in Deutschland sein sollte.

Die Aufzugtüren öffneten sich wieder und ich löste mich missmutig von der Wand. Auch wenn meine Füße schmerzten, hatte sich mein Ausflug gelohnt. 
Eine junge Frau kam mir entgegen, ich konnte nur einen kurzen Blick auf sie werfen, sah aber entsetzt, wie ihre Jacke um die viel zu dünnen Arme schlackerte und wie ihre leeren Augen, die zwischen den eingefallenen Wangen hervorstachen, mich musterten. Die Frau, eigentlich war sie eher noch ein Mädchen, ging schnell weiter und ich fragte mich, was sie hier machte. Sie wirkte wie jemand, der unendlich traurig gewesen und jetzt das erste Mal wieder Freude spürte aber damit vollkommen überfordert war. Ich versuchte mir seufzend klar zu machen, dass ich nicht jedem helfen konnte. Ich würde den restlichen Tag nicht grüblerisch auf dem Sofa verbringen, sondern in der Küche, Plätzchen backend.


Ich wollte gerade wieder nach meinem Schlüssel suchen, den ich gedankenverloren wieder in meiner Handtasche versenkt hatte, als ich stockte. Vor meiner noch undekorierten Tür ergoss sich eine wunderschöne, riesige Farbenpracht. Nach dem tristen winterlichen Grau kam mir der Blumenstrauß, der da vor meiner Tür lag, wie das schönste Geschenk der Welt vor. Ich verstand weder, warum sie dalagen, noch, wer sie da hingelegt hatte. Trotzdem konnte ich nicht anders als zu lachen, genauso zu strahlen wie es die Blumen taten. Ich bückte mich nach dem Strauß, ebenso gerührt wie neugierig. Ich musste kurz suchen, um die kleine Karte zu finden, die so unscheinbar wirkte im Vergleich zu den prachtvollen Blumen.
„Danke, dass Sie mir geholfen haben, die Farbe in der Welt wieder zu sehen“, stand darauf, und weiter „ich hätte mich das ohne Ihr Hilfe nie geschafft“. Es gab keinen Namen und keine Adresse. Nichts. Ich starrte die Karte einen Moment lang fassungslos an. Mein Blick verschwamm kurz und ich kämpfte mit den Tränen. Ich hätte niemals gedacht, dass mir einer der Unbekannten, denen ich als ebenso Unbekannte half, so ein Geschenk machen würde. Um meine Lippen legte sich ein glückseliges Lächeln, das kein anderes Geschenk als dieses jemals hätte zeichnen können.


Dann drehte ich mich um, ließ meine Tüten und meine unendlich teure Handtasche einfach achtlos im Flur stehen und rannte los. Ich hoffte einfach, dass ich das Mädchen noch rechtzeitig einholte. Die Treppen schienen unter meinen Füßen nur so zu fliegen und ich merkte kaum, wie ich die Stockwerke hinunter hechtete. Ich wollte sie nur sehen, kurz mit ihr sprechen. Einfach danke sagen. Die Luft brannte in meinen Lungen als ich die Haustür aufriss und mich umsah, bevor ich dem um einen dürren Körper schlotternden Mantel hinterherrannte, der sich langsam aber zielstrebig auf die Bushaltestelle zubewegte.
„Entschuldigen Sie“, rief ich, als ich das Mädchen schon fast erreicht hatte und als ich neben ihr stand, keuchte ich noch einmal „Entschuldigen Sie bitte.“
 Sie drehte sich zu mir um und mir stockte der Atem als ich ihr von Leid gezeichnetes Gesicht sah. Ihre großen blauen Augen wirkten verloren in ihrem ausgemergelten Gesicht.
„Ja?“, fragte sie mit leiser, unsicherer Stimme.
„Ist der Blumenstrauß von Ihnen?“, wollte ich atemlos wissen.
 Sie nickte nur. „Danke“, sagte ich einfach und spürte, wie mir ein wenig wärmer wurde.
 Sie lächelte und trotz ihrer eingefallenen Wangen sah ich leichte Grübchen, die ihr Gesicht erhellten: „Sie müssen sich nicht bedanken. Sie haben mir schließlich geholfen.“ Sie stockte und schien nicht zu wissen, was sie noch sagen sollte.


„Es freut mich, dass meine Homepage geholfen hat. Und dass ich Ihnen helfen konnte.“, erwiderte ich, noch immer gerührt darüber, dass ich das erste Mal ein reales, greifbares Dankeschön bekommen hatte. Es war manchmal nicht leicht, eine Hilfeseite für Suizidgefährdete zu betreiben und mit all den Schicksalen konfrontiert zu sein. Auch wenn das Internet anonymisierte, hatte ich mich diesen Unbekannten noch nie so nahe gefühlt. Ich musste nicht wissen, wer sie waren, um ihnen zu helfen. Das war der Grund, warum meine Seite überhaupt helfen konnte; weil es keine Profilbilder und persönliche Daten gab, sondern nur sichere Anonymität. Und trotzdem war ich mit all meinen Usern verbunden.


„Die Depressionen kamen, als die Schule immer stressiger wurde und das Mobbing anfing, nur weil ich anders war“, das Mädchen schauderte leicht, aber ihr Blick blieb fest auf mich gerichtet, „ich wollte mit niemand mehr reden. Ich hatte Angst. Ich saß vor meinem Handy, ich war immer online, einfach nur, weil ich allein und anonym sein konnte. Ich war so froh, als ich ihre Seite gefunden habe. Ich hatte das Gefühl, einen Freund zu haben, der mir aus dem schwarzen Loch raus half, auch wenn ich ihn nicht sehen konnte. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem schrägen, etwas breiteren Lächeln: „Ist es Ihr Beruf, eine Hilfeseite für Suizidgefährdete zu betreiben?“ Jetzt mischte sich auch Neugierde in ihre Stimme. 
Ich schüttelte den Kopf: „Nein, davon ließe sich nicht leben. Ich tue es um Menschen zu helfen.“
„Ich denke es ist gut, was sie da machen. Auch wenn es nur eine unter Millionen anderen Seiten ist.“, sie hielt mir die Hand hin und ich ergriff sie. “Es war schön, Sie persönlich zu treffen. Aber ich muss jetzt weiter. Ich treffe mich zum ersten Mal wieder mit einer alten Freundin“, sie sah glücklich aus als sie das sagte.


Ich nickte nur und sah ihr auch noch nach, als sie längst in den Bus gestiegen war. Ich hatte sie nicht nach ihrem Namen gefragt, oder danach, was aus ihr werden würde. Eigentlich wollte ich es auch gar nicht wissen. Warum auch? Es genügte mir  zu wissen, dass ich ihr geholfen hatte, und dass sie in einer halben Stunde wie jedes andere Mädchen auch lachend mit einer Freundin in einem kleinen Café sitzen würde. Und es musste reichen, dass meine Seite nur eine unter Millionen war.
Zumindest war sie da….

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