"…und deswegen bin ich nach wie vor der Ansicht, dass die Kopftuchpflicht ein Thema ist, das uns alle etwas angeht.“ Mit einem zufriedenen Lächeln ließ ich meinen Blick über die Menge schweifen. Die Aula hatte sich mittlerweile weitestgehend geleert, die wenigen Schüler, die noch anwesend waren, starrten entweder gedankenverloren auf ihre Handys oder aus den deckenhohen Sprossenfenstern. Einzig und allein meine beste Freundin Aylin strahlte mich ermutigend von ihrem Platz in der ersten Reihe aus an. "Ehm..", stammelte ich, denn mittlerweile war jegliche anfängliche Euphorie, meinen Vortrag über die Kopftuchpflicht an unserer Schule am Tage der Schülerversammlung verflogen.
"Bist du fertig?" Gähnend erhob sich der Schülersprecher Yasin von seinem Platz. Er schlenderte betont lässig auf das Podest zu und nahm mir das Mikrofon aus der Hand. Ich bemerkte, wie einige der Mädchen aus der letzten Reihe ihm kichernd bewundernde Blicke zuwarfen und abermals verfluchte ich sein arrogantes Auftreten, das es mir ganz und gar unmöglich machte, sein gutes Aussehen und seine Markenklamotten zu bewundern. "Ich denke schon." Ich überlegte kurz, ihm beim Sprechen in die Augen zu sehen, entschied mich dann aber in der letzten Minute dagegen. "Na dann, danke ... wie heißt du noch gleich?" Gelangweilt verstellte Yasin einige Knöpfe an dem Mikro. "Selma." Ich hielt inne und drehte mich so abrupt zu ihm um, dass dieser verwundert aufsah. "Hat mein Vortrag denn wenigstens was bewirkt? Wirst du dich bei der nächsten Versammlung dafür einsetzen, dass wir die Kopftücher nur noch tragen müssen, wenn wir beten?“ Er seufzte und machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ich mache hier nicht die Regeln, Selin. Außerdem hat dir sowieso nach dem zweiten Satz niemand mehr zugehört.“ Entschuldigend deutete er auf die Schülerschaft, von denen kein einziger zu uns hinüber sah. Abgesehen von Yasins Verehrerinnen natürlich.
"Ich heiße Selma", murmelte ich, als ich meinen Platz neben Aylin ansteuerte. "Selma, Selma, Selma. Wie oft habe ich ihm das jetzt schon gesagt?" Aylin umarmte mich stürmisch. "Du warst fantastisch, wirklich! Einfach unglaublich. Ich hoffe so, dass sie deinen Einwand berücksichtigen werden!" Enttäuscht schüttelte ich den Kopf. "Nein, Aylin, ganz bestimmt nicht. Die haben mir ja nicht mal zugehört, als ich mich für Schokomilch beim Frühstück eingesetzt habe.“ "Aber mittlerweile gibt es doch welche!“, erwiderte sie und zog mich aus der Aula. "Ja, aber nur weil Yasin zwei Wochen später den gleichen Einwand hatte“, warf ich ein, eine Spur schärfer als beabsichtigt. "Yasin!“ Sie schüttelte den Kopf. "Ich kann diesen Namen nicht mehr hören. Dieser Typ denkt aber auch wirklich, er sei der Kalif höchstpersönlich!“ "Ja, weil alle ihn auch so behandeln“, sagte ich. "Sein Blog im Internet hat weit mehr als dreihundert Leser. Dreihundert! Das sind mehr als Fatimas Fashion-Follower.“
Mittlerweile hatten wir das Schultor erreicht. Es hatte angefangen zu regnen, und instinktiv zog ich mir mein blau-rosa geblümtes Kopftuch ein wenig enger um den Kopf. "Der Bus muss jeden Moment hier sein“, bemerkte ich nach einem kritischen Blick auf meine Armbanduhr, machte aber keinerlei Anstalten, mich zu den drängelnden Jungen unter die Überdachung an der Haltestellte zu stellen. Das taten die Mädchen hier sowieso nicht, sie alle standen mit Regenschirmen bewaffnet ein paar Schritte weiter links im Regen und tuschelten leise. Aylin hatte meinen missmutigen Blick in Richtung der Haltestelle bemerkt. Besänftigend legte sie mir ihre Hand auf die Schulter. "Selma? Ich denke, du würdest aufhören, enttäuscht zu sein, wenn du anfangen würdest, dich wie alle anderen hier damit abzufinden, dass man als Mädchen an unserer Schule einfach nichts zu sagen hat.“ Augenblicklich zuckte ich zurück und drehte mich wütend zu ihr um. "Das hast du gerade nicht wirklich gesagt, oder?“, fauchte ich. Sie biss sich auf die Lippe und warf mir einen teils mitleidigen, teils entschuldigenden Blick zu. Fassungslos schüttelte ich den Kopf. "Der Bus ist da“, sagte ich kalt und ließ sie stehen.
Zuhause angekommen ließ ich meinen Tränen freien Lauf. Ich warf mich auf mein Bett und schluchzte, bis ich nicht mehr konnte. Dann rollte ich mich auf den Rücken und starrte an die Decke. Dieses doofe Kopftuch! Es war höllisch warm und jucken tat es auch. Ich riss es mir vom Kopf und starrte an die Decke. Zeit verstrich, viel Zeit, so viel, dass ich schon bald nicht mehr wusste, wie lange ich so dagelegen und nach oben gestarrt hatte. Schluss jetzt! Ich setzte mich abrupt auf und fing an, nachzudenken. Es musste doch eine Lösung geben. Es gab sie, das wusste ich. Und ich wusste auch, dass ich kurz davor war, sie zu finden. Ich klappte meinen Laptop auf und fing an zu googeln. Zu blöd, dass meine Eltern die meisten Internetseiten gesperrt hatten. Der Geistesblitz kam, als ich zum gefühlt tausendsten Mal Fatimas Fashion-Blog "Djibab und du!“ aufrief. "Das ist es!“, rief ich aus und machte mich sogleich an die Arbeit.
Den nächsten Morgen konnte ich kaum abwarten. Und tatsächlich: kaum hatte ich das Schulgebäude betreten, kam Aylin freudestrahlend mit einem Flugblatt auf mich zugelaufen. "Selma!“, rief sie, als sie außer Atem vor mir zum stehen kam. "Du glaubst gar nicht, was heute Morgen im E-Mail-Verteiler gewesen ist!“ "Was denn?“, fragte ich betont unschuldig und lächelte interessiert. "Yasin hat eine E-Mail rund geschickt, in der er eine Abschaffung der Kopftuchpflicht an unserer Schule fordert.“ Sie umarmte mich glücklich. "Dein Vortrag hat was gebracht, Selma! Yasin hat die Mail auch an den Schulleiter geschickt, und dieser hat doch tatsächlich geantwortet!“ "Tatsächlich?“, fragte ich, immer noch darum bemüht, mir nichts anmerken zu lassen. "Was denn?“ "Er schrieb, er würde sich noch einmal mit den obersten Lehrkräften auseinander setzen und ernsthaft darüber nachdenken, womöglich doch einzulenken. Ist das nicht einfach unglaublich?“ Sie lachte und führte ein spontanes Tänzchen vor. "Und wann erfahren wir, wie er sich entschieden hat?“, fragte ich. "Das ist das Beste an der ganzen Sache!“, gluckste sie und raunte geheimnisvoll: "Des Rätsels Lösung wird noch heute in der Mittagspause verkündet!“
Als der Gong endlich zur Pause geläutet hatte, hatten sich bereits alle Schüler in der Aula eingefunden. Es war so voll, dass wir keinen Sitzplatz mehr bekamen und uns neben Yasin und einigen seiner Groupies an die Wand lehnen mussten. Endlich war es soweit. Der Schulleiter betrat das Podest und schwang einige feierliche Worte. "Worum geht’s überhaupt?“, hörte ich Yasin einen seiner Freunde fragen, dieser zuckte allerdings nur die Schultern. Perfekt! Mein Plan ging auf. "…und deswegen haben das Kollegium und ich uns dafür entschieden, das Kopftuchgebot aufzuheben“, beendete der Direktor schließlich seine Rede. Im Saal war es totenstill, man konnte die berühmte Stecknadel fallen hören. Keiner wagte es, zu atmen oder auch nur einen Mucks von sich zu geben. "Ihr dürft die Kopftücher nun gerne abnehmen, wenn ihr möchtet“, sagte mein Mathelehrer und zögernd nahmen die ersten Mädchen die Tücher ab. Bald schon hatte keine von uns mehr eines an, statt der bunten Tücher sah man nun Flechtfrisuren und Pferdeschwänze. "Einen großen Dank an Yasin Arslan!“, sagte der Direktor noch Sekundenbruchteile, bevor besagter Yasin Arslan auf das Podest stürmte. "Was?“, schrie er aufgebracht und sah fassungslos in die Runde. "Da habe ich nichts mit zu tun, absolut gar nichts!“ Verwirrt schüttelte der Schulleiter den Kopf. "Verzeihung, Herr Arslan, aber die E-Mail wurde mit ihrem Namen unterzeichnet. Sie sind als Schülersprecher quasi der Hauptverantwortliche für diesen Beschluss!“ "Was…aber….aber“, stammelte Yasin und sein Gesicht rötete sich vor Scham und Entsetzten. "Nein, das muss ein Irrtum sein, ich…ich…nein!“ In diesem Moment beschloss ich, einzugreifen. Entschlossen stapfte ich auf die Bühne und baute mich vor der Schülerschaft auf. "Ich war’s!“, rief ich mit neu gewonnenem Selbstbewusstsein. "Ich habe diese Mail versendet!“ Augenblicklich wurde es wieder still. Diese Stille, sie war fast greifbar. Auf einmal hörte ich ein Lachen. Verwundert drehte ich den Kopf und sah Aylin, die sich kichernd den Bauch hielt. Erst wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte, doch dann beschloss ich, mit einzustimmen. Ich lachte und lachte und ehe ich mich versah, hatte der ganze Saal mit eingestimmt.