Rotes Banner, schwarzes Hakenkreuz, grünes Kopftuch

Einsendung zum Wettbewerb #netzheldin von Sarah, 18 Jahre

Rotes Banner, schwarzes Hakenkreuz. Nickname: "SS-Reichsführer"
Grünes Kopftuch, lächelnd. Nickname: "deadpoetsarah"

Unterschiedlicher könnten unsere Profilbilder und Welten nicht sein. Und doch trafen sie aufeinander, im Internet.
Als ich sein Profil auf einer internationalen Plattform entdeckte, schossen mir hundert Gedanken durch den Kopf. Ein 17-jähriger Junge aus den Niederlanden, dessen Identität eine Ideologie bestimmt, die Millionen Menschen Leben, Liebe und Würde kostete. War er sich des Ausmaßes der Grausamkeit und Zerstörung überhaupt bewusst? Meint er es wirklich ernst? Soll das ein schlechter Witz sein? Ich nutzte die Maske der Anonymität und schrieb ihn an. Vielleicht übersieht er das Kopftuch und antwortet mir.

deadpoetsarah: Hallo, kann ich dich was fragen?
SS-Reichsführer: Ja

Unglaublich, er hat geantwortet. Ist mein grünes Kopftuch auch klar erkennbar auf dem Bild?
Mein Kopftuch ist als frei wählbares Symbol die Expression und Fassade der Selbstbestimmung eines Gedankenpalastes, der auf Wissen und Verstand gründet. Dennoch wird der politische und gesellschaftliche Diskurs über dieses kontroverse Thema medial kaum durch die Stimmen der Trägerinnen mitgestaltet. Ich habe es bewusst als Profilbild gewählt, damit Menschen auf Anfrage all ihre Fragen und Skepsis an mich richten können.
Wusste „SS-Reichsführer“ nicht, dass es sich bei mir um eine muslimische Frau handelt?

deadpoetsarah: Meinst du das ernst mit der NSDAP?
SS-Reichsführer: Also
deadpoetsarah: Ich will dich damit nicht angreifen
SS-Reichsführer: Lass mich dir was erklären
Ich liebe die politische Bewegung ABER
Ich habe nichts gegen Juden
Nur gegen Muslime
Ich meine
Hitlers starke Armee und Land faszinieren mich
Aber er hätte die Muslime vergasen sollen, da sie nun Europa erobern

Schock – Taubheit - Sprachlosigkeit.
Ist es weniger schlimm, den Muslimen solch ein Schicksal zu wünschen? Haben die Menschen nicht aus dem Schicksal der Juden gelernt? Wollen sie die Brille der Blindheit aus der Vergangenheit wieder aufsetzen? Ob Jude, Muslim, Christ oder Atheist, uns eint die Würde des Menschenseins. Die Menschlichkeit ist die Basis aller und impliziert  Toleranz und höchsten Respekt voreinander.
Also respektiere ich mein Gegenüber, auch wenn er glaubt, ich sollte vergast oder vertrieben werden.
Denn Wut und Gegengewalt waren nie meine Antwort auf Hass und Unwissenheit. Sie entziehen ihnen nicht die Wurzeln, sie nähren sie nur.
Natürlich war mir klar, dass Menschen Hass in ihren Herzen nähren können. Aber rassistische Feindseligkeiten online als auch real zu erleben, verschlagen mir die Sprache, bringen mein Herz zum Beben. Zum Glück stand ich diesem Menschen nicht in Wirklichkeit gegenüber, zum Glück wurde mir Reaktionszeit gewährt. Ich kann die Maske der Anonymität nutzen, um die Gedankenwelt meines Haters zu erforschen, um mit Verstand und Gefühl entgegenzuwirken.

deadpoetsarah: Was genau liebst du an der Bewegung?
SS-Reichsführer: Die Swastika und Disziplin
Und die extrem trainierte Jugend
Die Hitler Jugend
(...)
SS-Reichsführer: Das ist der Grund, warum wir die Immigration aus muslimischen Ländern stoppen müssen
Das ist der Grund, warum ich die PVV in den Niederlanden wähle
deadpoetsarah: Und glaubst du, dass Gewalt und Morden die richtige Antwort auf Gewalt und Angst ist? Glaubst du nicht, dass es nur zu viel mehr Gewalt und Morden führt?
SS-Reichsführer: Habe ich so etwas gesagt?
Ich möchte, dass sie aus dem Land geschmissen werden 
deadpoetsarah: Du hast gesagt, er hätte die Muslime vergasen sollen
SS-Reichsführer: Ja
In dieser Zeitspanne
deadpoetsarah: Und das ist es, worum es bei Hitlers Ideologie und der NSDAP wirklich geht
SS-Reichsführer: Heutzutage sind wir zivilisierter
deadpoetsarah: Die Pseudo-Bedrohung töten
Ja
Da stimme ich dir voll und ganz zu. [Antwort auf „Heutzutage sind wir zivilisierter“]
SS-Reichsführer: Hast du den Film Fitna gesehen?
deadpoetsarah: Nein, habe ich nicht
SS-Reichsführer: Ein anti-islamischer Film von Hollands meist geliebten Politiker Geert Wilders
deadpoetsarah: Ich werde ihn mir anschauen, versprochen
SS-Reichsführer: Mal so nebenbei
Bist du jüdisch?
deadpoetsarah: Nein, bin ich nicht :)
SS-Reichsführer: Bist du Muslima?
deadpoetsarah: Ja
SS-Reichsführer: Oh mein [blockt mich]
deadpoetsarah: Ist das nicht interessant
Die Art und Weise, in der du mit mir geredet hast
Und nun, da du mich kennst
Glaubst du, mich zu kennen
Sei mutig und such den Dialog mit Muslimen.

Das war der richtige Zeitpunkt, um die Maske der Anonymität fallen zu lassen. Nur im globalisierten Netz habe ich mich getraut, die Ansichten eines niederländischen Rechtsgesinnten in englischer Sprache ohne Angst und Zurückhaltung zu hinterfragen.

Mir wurde augenblicklich klar, dass ich meinen Mut und meine Offenheit in persönliche Begegnungen mit Menschen transformieren muss. Dieses Gespräch war der Anstoß, die Projektidee „Der Ring“, angelehnt an Lessings Ringparabel, zu entwickeln.
Die Idee ist, die fundamentalen Grundsätze des Islams zu vermitteln. Dies soll hauptsächlich an Oberschulen stattfinden, um einen aktiven Dialog mit Schülern zu führen. Als deutsche Muslima mit Migrationshintergrund empfinde ich es als eine Pflicht, meine Lebenswirklichkeit und die Millionen anderer einem breiteren Publikum bekannt zu machen und so einem verzerrten Bild einer Religion ein klares Gesicht zu geben.

Darüber hinaus initiiere ich auch im Netz mit einem eigenen Online-Blog repräsentant zu sein und kontroverse, persönliche sowie politische Themen zu adressieren. Ich habe meinem Chatpartner zum Schluss den Tipp gegeben, mutig zu sein und den Dialog mit Muslimen zu suchen. Diesen Tipp kann ich gleichermaßen beherzigen. Ich will meine Stimme nutzen, um den Dialog mit zu kreieren. Ich will ein aktiver Beweis dafür sein, dass aus der Quelle des Hasses der Gegenstrom der Liebe, getrieben von Wissen und Aufklärung, entspringen kann.

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